Todesqual
kannte das Viertel, weil ihr Bruder mehr als einmal mit ihr den Buchladen auf der anderen Straßenseite besucht hatte. Book-’em Mysteries war auf Kriminalromane spezialisiert und Davids Lieblingsbuchladen gewesen. Doch als sie nun den Parkplatz überquerten und das Gebäude betraten, dachte Lena nicht an ihren Bruder.
Sichtlich um ein professionelles Auftreten bemüht, saß Dr. Sarah Colletti hinter ihrem Schreibtisch, während Lena und Novak sie zu ihrer ehemaligen Patientin befragten. Als sie sich am Empfang angemeldet hatten, hatte Dr. Colletti sofort die Sprechstunde unterbrochen. Sie schien nicht viel älter als Lena zu sein und besaß unter gewöhnlichen Umständen sicher ein warmes, vertrauenerweckendes Lächeln. Doch dieses Lächeln war schon vor einer Weile verflogen, und zwar sobald die Tür sich geschlossen und Novak ihr mitgeteilt hatte, dass Nikki Brant ermordet worden war.
»Ja, sie war schwanger«, erwiderte Colletti. »Ich habe es ihr gestern gesagt. Sie hat sich sehr gefreut.«
Die Bestätigung senkte sich bleischwer über die Anwesenden. Nikki Brant hatte ein Kind erwartet, als sie erstochen worden war.
»Wie oft war sie bei Ihnen?«, fragte Lena.
»Anfangs einmal im Monat, dann etwa alle zwei Wochen. Nikki wollte unbedingt ein Kind. Sie hatte einige Male falschen Alarm.«
Novak blätterte ein paar Seiten in seinem Notizbuch zurück. »Haben Sie bei den Untersuchungen je Striemen oder Blutergüsse festgestellt?«, erkundigte er sich nun.
Colletti starrte ihn nur wortlos an.
»Eine Freundin von ihr hat uns erzählt, sie habe vor ungefähr drei Monaten einen Bluterguss an ihrem Arm bemerkt«, fuhr Novak fort. »Da sie mindestens einmal im Monat bei Ihnen gewesen ist, würde uns interessieren, ob Sie ihn auch gesehen haben.«
Die Ärztin schüttelte den Kopf.
»Was war mit ihrer Vagina?«, hakte Novak nach.
»Mir sind nie Verletzungen aufgefallen. Weder Risse noch Abschürfungen noch andere Hinweise auf gewaltsamen oder erzwungenen Sex. Wenn Sie darauf hinauswollen, ob Nikki Probleme mit ihrem Mann hatte: Sie hat nie etwas dergleichen erwähnt. Als ich ihr eröffnete, sie sei schwanger, war sie ganz aus dem Häuschen. Ich habe ihr etwas gegen die Übelkeit verschrieben. Und das war es dann.«
Während Lena sich den Namen des Medikaments notierte, fragte sie sich, warum sie am Tatort keine Tabletten gefunden hatten. »In welchem Monat war sie denn?«
Colletti kämpfte mit den Tränen, konnte sich aber beherrschen. Sie nahm ein Blatt Papier aus einer Akte und reichte es Lena. Novak rückte näher heran, um besser sehen zu können. Es war ein Ultraschallbild, das einen Fötus mit gut erkennbaren Fingern und Zehen, zusammengerollt im Mutterleib, zeigte.
»Nikki war in der zehnten Woche«, erklärte Colletti. »Sie wünschte sich einen Jungen, aber es war noch zu früh, um das genau festzustellen.«
Nachdem Novak das Bild lange Zeit gemustert hatte, gab er es der Ärztin zurück. Auf dem Weg durch den Vorraum hörte Lena, wie Colletti der Empfangssekretärin die Anweisung gab, die nächste Untersuchung um eine Viertelstunde zu verschieben. Die Ärztin schloss die Tür ihres Büros. Sie hatte sich mächtig zusammengerissen, dachte Lena. Aber man brauchte kein Genie zu sein, um zu erraten, was Colletti in der nächsten Viertelstunde tun würde. Am gestrigen Nachmittag hatte sie einer jungen Frau die freudige Nachricht überbringen können, dass sie bald Mutter werden würde - ein Traum, den die Ultraschallaufnahme bestätigte. Und heute waren Mutter und Kind vom Abgrund verschluckt. Für immer ausgelöscht und verschwunden.
10
V or sechzehn Stunden war Nikki Brant eins fünfundfünfzig groß gewesen und hatte vierundvierzig Kilo und fünfhundert Gramm gewogen. Nun lag ihr zierlicher Körper auf einer kalten Stahlplatte und hatte die letzte Schändung bereits hinter sich. Lena sah zu, wie Lamar Newton das abschließende Foto von der jungen Frau machte. Als das Blitzlicht verlosch, drückte der Gerichtsmediziner den Brustkorb zusammen und nähte den kindlichen Körper mit dickem schwarzem Zwirn zusammen wie einen alten ausgetretenen Schuh.
Lena warf einen Blick in ihr Notizbuch, um sich zu vergewissern, dass sie die wichtigsten Punkte der Autopsie aufgeschrieben hatte. So würde sie nicht auf einen Bericht warten müssen.
Die Plastiktüten, die der Täter dem Opfer um Kopf und Hände gewickelt hatte, waren ins Labor geschickt worden. Allerdings handelte es sich dabei offenbar um einen
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