Todesqual
Matratze und an den Wänden hielten die Erinnerung an den Tag aufrecht, als Lena Nikki Brant zum ersten Mal gesehen hatte. Sosehr sie sich auch dagegen wehrte, das Bild der jungen Frau, die mit offenen Augen auf dem Bett lag, ihr verstümmelter Fuß und die schrecklichen Stichwunden an der Brust, ließ sie einfach nicht los.
Lena biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt ins Zimmer. Der Wandschrank befand sich auf der anderen Seite des Bettes. Auf Zehenspitzen umrundete sie die Blutflecken und spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief, als sie die Tür öffnete und die Kleider des Opfers durchsah. Der dicke widerwärtige Geruch im Raum raubte ihr den Atem, als hätte ihr jemand eine Kapuze über den Kopf gezogen. Inzwischen war es nicht mehr möglich, ihn zu ignorieren, sodass Lena ruhig durchatmete und sich sagte, dass genau dieser Gestank der Grund war, warum sie unbedingt weitermachen musste.
Sie betrachtete die lange Reihe von Hosen und Röcken. Als sie eine Jacke entdeckte, griff sie in die Tasche, ertastete etwas und zog es heraus. Es waren die verschriebenen Tabletten
gegen Übelkeit. Nikki Brant hatte sie geheim gehalten und an einem Ort versteckt, wo ihr Mann vermutlich nicht nachschauen würde. Laut Aufkleber auf dem Döschen hatte ihre Ärztin ihr einmalig fünf Tabletten verordnet. Darunter stand die Warnung, das Medikament könne Benommenheit auslösen. Lena öffnete das Döschen. Da es nur noch vier Tabletten enthielt, war mit einiger Gewissheit davon auszugehen, dass Nikki Brant in der Nacht ihres Todes eine davon eingenommen hatte.
Lena fragte sich, wie stark das Medikament wohl wirkte. Hatte es eine Rolle bei der Tat gespielt? Sie erinnerte sich an Novaks Bemerkung im Hof des gerichtsmedizinischen Instituts.
Kennst du dich mit Fesselspielchen aus?
Ob da wohl ein Zusammenhang bestand? Möglicherweise hatten die Brants ja eine Schwäche für ungewöhnliche Praktiken, und das Opfer hatte unter Medikamenteneinfluss gestanden, als es passierte. War Nikkis Tod vielleicht Folge eines Unfalls gewesen? Handelte es sich bei all den anderen Spuren um Versuche, den wahren Hergang zu vertuschen?
Obwohl Lena das für recht unwahrscheinlich hielt, nahm sie sich vor, mit Novak darüber zu sprechen.
Die Asservatenbeutel befanden sich in ihrem Aktenkoffer, der in der Küche stand. Lena beschloss, die Tabletten später zu registrieren, steckte das Döschen ein und ging zum Nachttisch, um einen Blick in die Schubladen zu werfen. Falls die Brants ungewöhnliche Vorlieben hatten, gab es hier womöglich Hinweise auf ihr Sexualleben. Allerdings hatte Novak das Zimmer am Freitag durchsucht und keine Sexspielzeuge erwähnt. Und tatsächlich war das, was Lena unter einem Schreibblock entdeckte, alles andere als merkwürdig. Aus den Döschen, die Pillen mit Vitaminen, Eisen und Folsäure enthielten, schloss sie, dass es sich um das Nachtkästchen des Opfers handelte, eine Vermutung, die von dem
Basal-Thermometer bestätigt wurde. Die Skala war in Zehntelgrade eingeteilt, um die genaue Morgentemperatur zu ermitteln. Unten in der Schublade fand Lena einen Taschenkalender und schlug ihn auf. Die Aufzeichnungen begannen im Januar. Nikki Brant hatte Buch über ihren Menstruationszyklus und ihre fruchtbaren Tage geführt, indem sie jeden Morgen ihre Temperatur maß und Veränderungen im Zervixschleim notierte, bis der richtige Zeitpunkt, der passende Augenblick, da gewesen war.
Lena betrachtete die Notizen der Frau, ihre Hoffnungen und ihren Traum von einer Familie, der sich zwar erfüllt, aber nur einen einzigen Tag gedauert hatte. Dann lauschte sie ins Haus hinein. Es herrschte bedrückendes Schweigen. Mühsam riss sie sich aus ihrer düsteren Stimmung und durchsuchte rasch die Kommode: T-Shirts, Strümpfe und Unterwäsche des Opfers. Als sie auf ein zerfleddertes Foto stieß, das Nikki als kleines Mädchen zeigte, begann ihre Hand zu zittern. Nikki Brant konnte nicht älter als acht Jahre gewesen sein. Sie stand Schulter an Schulter mit einem Jungen vor einem Waisenhaus. Beide Kinder lächelten traurig und versuchten, die Furcht und Einsamkeit in ihrem Blick zu verbergen. Lena legte das Foto zurück in die Schublade und verließ den Raum.
Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Bis sie sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrieren konnte, verging noch eine Weile.
Außer dem CD-Spieler und dem Fernseher war das Wohnzimmer leer. Die nächsten zwanzig Minuten durchwühlte Lena die Schränke und Schubladen
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