Todesqual
Venice Beach.
Obwohl Lena nicht viel Erfahrung mit Sexualverbrechen besaß, hatte sie in genügend Fällen von Raub ermittelt, um zu wissen, dass die Anordnung der Tatorte dem Gebiet entsprach, in dem der Täter sich sicher fühlte. Außerdem war sie überzeugt, dass diese Theorie weder eine Vermutung noch ein vages Gefühl und auch nicht auf das Glas Wein zurückzuführen war.
Der Täter hatte am Strand begonnen, weil er dort wohnte. Hier hatte er für den Notfall Fluchtwege parat und wusste, wie man so schnell wie möglich nach Hause kam, wenn man verfolgt wurde. Sicher hatte er aus diesem Grund in einem der Fälle eine Sturmhaube getragen: Der Mann hatte sein Gesicht verborgen, da er befürchtete, in seinem näheren Wohnumfeld wiedererkannt zu werden. Schließlich ging er hier auf den Straßen spazieren, stieg aus dem Auto, tankte oder schob einen Einkaufswagen durch den Supermarkt.
Der Täter, womöglich sogar Romeo selbst, wohnte also in Strandnähe. Und wenn er wirklich Romeo war, war vor zwei Monaten etwas passiert, das ihn entfesselt hatte.
Lena betrachtete die Karte. Etwas machte ihr zu schaffen, obwohl sie es nicht in Worte fassen konnte. Doch als ihr Blick zum Jachthafen glitt, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Avis Payton lebte im näheren Wohnumfeld des Täters.
Obwohl Novak derselben Ansicht gewesen war, zweifelte Lena inzwischen an ihrer Entscheidung. Nachdem sie sich die Aussage der Frau von der Bank hatte bestätigen lassen und sich außerdem vergewissert hatte, dass ihr Vater tatsächlich Polizist in Salt Lake City war, hatte Lena die Kollegen von der Pacific Division verständigt, anstatt ein Überwachungsteam bei der Spezialeinheit SIS anzufordern. Eigentlich wurde das SIS hinzugezogen, wenn es galt, einen Verdächtigen zu beschatten, weshalb Lena das Gefühl gehabt hatte, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, wenn sie wegen eines einen Monat alten Handtaschendiebstahls ein Haus beobachten ließ. Dennoch wurde ihr mulmig, als sie nun die Straße, in der Payton wohnte, auf der Karte heraussuchte und feststellte, wie nah es von dort aus nach Venice Beach war.
Das Telefon läutete. Da es ein Uhr war, fragte sie sich, ob es Novak oder gar Rhodes sein könnten. Als ihr Blick beim Greifen nach dem Telefon auf ihre Hand fiel, erinnerte sie sich an ihr Erlebnis mit Rhodes im Aufzug. Daran, wie seine Augen ihre Finger fixiert hatten. An ihre Gedanken, als er prüfend ihre Beine und Hüften musterte. Ein wenig hoffte sie sogar, es möge Rhodes sein.
»Entschuldigen Sie die späte Stunde«, sagte eine Männerstimme. »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt. Ich bin Teddy Mack vom FBI und hatte vorher keine Zeit.«
Lena setzte sich auf einen Barhocker an den Küchentresen. Die Schiebetür stand offen. Ein Windhauch spielte mit der Karte auf dem Tisch.
»Ich kann Sie kaum verstehen«, erwiderte sie. »Wo sind Sie?«
»An einem Ort, wo Sie sicher niemals hinmöchten. Obwohl es mitten in der Nacht ist, haben wir noch über dreißig Grad. Ich stehe vor meinem Motel. Die einzige Stelle, wo ich Empfang habe, ist ein ein Meter breiter Bereich vor der Rezeption. Falls die Verbindung abbrechen sollte, rufe ich zurück.«
Er klang angespannt und schlecht gelaunt. Im Hintergrund hörte Lena Papiere rascheln und dachte an den Wind. Wer in der Wüste lebte, brauchte eine Schutzschicht.
»Hatten Sie Gelegenheit, den Bericht zu lesen?«
»Ich habe mir einige Dinge herausgeschrieben«, erwiderte er. »Soweit ich informiert bin, haben Sie ein Problem und wollen darüber reden.«
Ein Problem. So nannte das FBI das also. Lena betrachtete die drei Zusammenfassungen vor sich auf dem Tisch.
»Ein Problem«, wiederholte sie. »So könnte man es bezeichnen.«
»Halten wir uns nicht mit Wortklaubereien auf. Lassen Sie uns lieber damit anfangen, warum er sich von Nikki Brants Haus in eine Porno-Webseite eingeklickt hat.«
»Und dazu noch mit einer gestohlenen Kreditkarte«, ergänzte sie. »Aus welchem Grund er sich nach dem Mord noch am Tatort herumgedrückt hat, will uns einfach nicht in den Kopf.«
»Dazu kommen wir noch«, entgegnete Mack. »Finden Sie es nicht auch seltsam, dass er sich hinter einer gestohlenen Kreditkarte versteckt, obwohl er mühelos hätte Mitglied werden und sich die Webseite ohne Risiko oder Rücksicht auf die Folgen zu Hause hätte ansehen können?«
Dasselbe hatte Rhodes bei der Besprechung mit Dr. Bernhardt auch gefragt.
»Meinen Sie, er hat einen Fehler gemacht?«, erkundigte
Weitere Kostenlose Bücher