Todesrosen
die Blätter durch die Gegend. Außer ihnen befand sich niemand auf dem Friedhof. Man hörte von fern den Verkehrslärm auf der Hringbraut. Sie blieben vor dem Grab von Jón Sigurðsson stehen. Janus trat einen Schritt vor und hielt sich an dem schwarz angestrichenen Eisengitter fest, mit dem das Grab eingefasst war.
Sie standen eine ganze Weile unbeweglich da. Erlendur sah sich die Grabstätte an, aber Janus schien völlig abwesend zu sein, tief in seine eigenen Gedanken versunken. Und dann erzählte er Erlendur von Birta.
Er war zu Hause in seiner Kellerwohnung in Breiðholt, als Birta nach Hause kam und die Tür mit ihrem Schlüssel öffnete. Es war bereits spät am Abend. Sie streifte sich sämtliche Kleider ab und ging unverzüglich ins Bad, wo sie ihre Spritze aufbewahrte, den Löffel und das Feuerzeug und den braunen Plastikschlauch, den sie sich immer um den Oberarm band. Aber den benutzte sie im Augenblick nicht, denn sie konnte sich nicht mehr in die Ellenbeuge spritzen. Sie setzte die Nadel zwischen den Zehen an und am Nabel. Kalmann hatte reichlich bezahlt. Der Milchbart hatte sie von Kalmanns Ferienhaus abgeholt, und er hatte das Heroin für sie dabeigehabt. Manchmal hatte Kalmann sie auch gebeten, sich den Schuss bei ihm zu verabreichen, damit er den Anblick auskosten konnte; manchmal gehörte das zum Spiel dazu.
Sie setzte sich auf den Deckel der Toilette, erhitzte das Zeug auf dem Löffel, und als es flüssig geworden war, zog sie es in die Spritze, die sie sich in den Nabel stach und langsam und mit sicherer Hand leerte. Die klare Flüssigkeit drang in sie ein, der Kick kam augenblicklich. Ihre Muskeln entspannten sich, und sie zog die Nadel wieder heraus.
Janus erschien in der Tür und beobachtete, wie sich Birtas Gesichtszüge entspannten. Die Spritze fiel ihr aus der Hand, und sie saß mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen und Beinen auf der Toilette. Er schaute zu Birta hinunter und sah den leichenblassen Körper, die Blessuren und die Wunden. Auf dem Boden lagen ihre Sachen, die sie von sich geworfen hatte, der schäbige Pullover, die zerrissene Strumpfhose, der grüne Minirock und die Schuhe mit den groben Sohlen. Aus irgendwelchen Gründen, die Janus nie begriffen hatte, spritzte sie sich immer nackt, doch das konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Er sah sie immer mit den gleichen mitleidigen Augen an. Er betrachtete das ungepflegte Gesicht mit dem dicken Make-up um die Augen und die Lippen, die geschwollen waren und geblutet hatten. Er sah auf die blauen Flecken an den Armen, den schmalen, weißen Körper, das dichte Haar, das schon einige Tage nicht mehr gewaschen worden war. Die blauen Flecken am Hals erweckten den Anschein, als habe Kalmann versucht, sie zu erwürgen.
Sie öffnete die Augen.
»Ich hab’s diesem Arschloch gesagt. Er war in mir drin, und er kam gerade, da hab ich mich aufgerichtet und ihn angeschrien, dass ich Aids hätte und er mit Sicherheit auch und dass er genau wie ich sterben würde. Du hättest die Visage von diesem Sadisten sehen sollen. Er rastete total aus. Ich habe ihm gesagt, ich hätte außer ihm mit niemandem geschlafen, seit ich wusste, dass ich positiv bin. Mensch, hättest du bloß die Visage von diesem Arschloch sehen können! Ich war mir nicht sicher, ob er loskotzen oder Dünnschiss kriegen würde.«
»Und dann hat er zugeschlagen«, sagte Janus, der Birtas Redeweise kaum ertragen konnte. Er nahm die Nachricht mit erstaunlicher Gelassenheit auf. Es schien ihn kaltzulassen, was Birta sich selber oder anderen antat. Sie war eine Unbekannte für ihn geworden.
»Überhaupt nicht. Er ist vor mir zurückgewichen, als hätte ich Lepra«, erklärte sie.
Sie stand auf, ging ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett, sie fühlte sich schon viel besser, sie war imstande, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, hunderprozentig in Ordnung, super in Form. Er ging hinter ihr her. Er hatte noch keine Entscheidung getroffen, als er sich zu ihr aufs Bett setzte. Die kam ganz plötzlich, wie von selbst.
»Weshalb hast du ihn infizieren wollen?«, fragte er.
»Der hat es verdient gehabt.«
»Aber du bringst ihn damit um. Birta, du bringst doch keine Menschen um! Was ist eigentlich los?«
»Wieso machst du dir Gedanken darüber? Du hast oft genug mir gegenüber gesagt, du würdest ihn und Herbie am liebsten umbringen. Du weißt alles über ihn, du weißt, wie er ist. Du weißt, was er in den Westfjorden gemacht hat, wie er Mädchen wie mich behandelt
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