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Todesrosen

Todesrosen

Titel: Todesrosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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mitten in der Krise neue Wohngebiete in Reykjavík aus dem Boden zu stampfen«, fuhr Erlendur fort. »Den Maschinenpark für den Bau von Kraftwerken auszutauschen gegen Maschinen, die die neuen Wohngebiete von Hafnarfjörður, Kópavogur und die neuen Siedlungen in Grafarvogur nördlich von Reykjavík in Richtung Kjalarnes bauen sollten. Großartige Planungen für ganz neue Stadtviertel mit Geschäften und Schulen, schönen Straßen und Erholungsgebieten, Reihenhäusern, riesigen Wohnblocks und tollen Eigenheimen. Und als Krönung des Ganzen: zwei neue Einkaufszentren, das eine in Kópavogur und das andere in dem neuen Wohnviertel in Borgarholt. Jedes für sich doppelt so groß wie die Kringla. Und wer soll all diese großartigen Einkaufszentren füllen? Wer soll in all diese Wohnkasernen einziehen? Woher sollen all diese Menschen kommen?«
    Erlendur machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Das Einzige, was bei all diesen Planungen fehlte, waren die Menschen. Dieser fantastische Schachzug von Bauunternehmern und Immobilienhändlern in Reykjavík konnte nur dann verwirklicht werden, wenn es Menschen gab, die in die Wohnungen in den neuen Häusern einzogen und in den Einkaufszentren einkauften. Woher diese Menschen nehmen, wer sollte in all die geplanten Häuser einziehen? Das waren seltsamerweise die Fragen, die sich ein junges, zugedoptes Mädchen auf den Straßen von Reykjavík stellte. Findest du das nicht merkwürdig?«
    Kalmanns einzige Antwort bestand in einem Grinsen.
    »Woher die Leute nehmen, darüber spekulierten die Baulöwen. Und dann kam ihnen die Erleuchtung. Wo es keine Quotenanteile gibt, gibt es auch keine Menschen, eine simple Regel. Sie verschwinden mit den Quoten. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es diesen Zustrom in die Stadt, den musste man jetzt bloß noch intensivieren, und zwar erheblich. Die Bauunternehmer und Immobilienspekulanten zerbrachen sich den Kopf über die Mittel, mit denen sie die Leute dazu bringen konnten, nach Reykjavík zu ziehen. Und sie nahmen sich die Quotenanteile vor. Sie investierten gezielt in Fischfangbetriebe und setzten es durch, dass dem Quotenhandel keinerlei Beschränkungen auferlegt wurden. Ihnen gelang, was niemand je für möglich gehalten hatte: Sie rissen sich praktisch sämtliche Quoten aus den Fischerdörfern in den Westfjorden unter den Nagel. Die Leute begriffen das gar nicht, sie hatten gar keine Chance, diese neue Realität des Quotensystems zu verstehen. Und dann traf genau das ein, womit die Geldmenschen hier in Reykjavík gerechnet hatten. Wenn der Quotenanteil weg war, gab es keine Lebensgrundlage für die ländlichen Regionen mehr. Immer mehr Menschen sahen keine andere Wahl, als nach Reykjavík zu ziehen, statt in ihrer angestammten Heimat ein erbärmliches Dasein zu fristen. Sie kapitulierten und versuchten, ihre Häuser zu verkaufen, sich hier in der Stadt etwas zu kaufen, wo es Arbeit gab. Vielleicht war die Region der Westfjorde besonders anfällig und bot deswegen eine hervorragende Zielscheibe. Die Baulöwen brauchten in der Tat nur eine Entwicklung zu beschleunigen, die unausweichlich schien. Dort war die Abgeschiedenheit von jeher ein Problem, die Fischereibetriebe standen auf wackeligen Beinen, Schluss mit der Vergeudung von Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln. Die jungen Leute wollten nach Reykjavík. All das und noch mehr trug dazu bei, die Westfjorde zum optimalen Opfer zu machen.«
    Wieder machte Erlendur ein kleine Pause. Kalmann und Sigurður Óli hatten ihm aufmerksam zugehört, doch Kalmann zeigte keinerlei Reaktion.
    »Als die Quotenanteile weg waren, sahen sich Hunderte von Familien gezwungen, aus den Westfjorden ins Eldorado Reykjavík zu ziehen. Die Menschen nahmen das wie jedes andere Naturgesetz hin. Städte wachsen ja immer auf Kosten der ländlichen Regionen, das läuft überall auf der Welt so ab. Niemand regt sich darüber auf. So ist halt der Lauf der Dinge, denken die meisten. Wenn die Entwicklung zu bedrohlich wird, unternehmen die Regierungsbehörden kraftlose Versuche, das Leben der Menschen durch Straßenbaumaßnahmen zu erleichtern. Tunnel wurden durch Berge gegraben. Erst nahm man ihnen die Lebensgrundlage, dann baute man Straßen!«
    »Ich sehe nicht, was daran kriminell sein sollte«, sagte Kalmann mit einem Mal, nachdem er sich Erlendurs Predigt stumm angehört hatte. »Wie du gesagt hast: In diesen Jahren strömten alle nach Reykjavík, und die Leute brauchten Wohnungen. Die Stadt wuchs. Wir haben die

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