Todesspur
Nachbarsjungen gequält und unterdrückt wurde, und nun lassen Sie ihn auch noch für Ihre Tat büßen.«
Frau Tiefenbach ist kurz zusammengezuckt.
»Ihr Sohn hat mir gesagt, dass er ein Mal mit der Axt, die sich im Gartenhaus befand, zugeschlagen hat. Er traf Olaf am Hinterkopf, genauer gesagt am Scheitelbein.« Oda berührt die besagte Stelle über ihrem Haarknoten.
»Das Gespräch, das Sie mit meinem Sohn geführt haben, ist überhaupt nicht relevant, sagt mein Anwalt. Ab sofort redet Luis nur noch im Beisein unseres Anwalts mit Ihnen«, platzt Frau Tiefenbach heraus.
Oda beachtet den Einwurf gar nicht, sie fährt fort: »Der Rechtsmediziner hat aber festgestellt, dass Olaf mit zwei Schlägen getötet wurde. Der zweite Schlag erfolgte, nachdem Olaf schon am Boden lag. Dieser Schlag war todesursächlich. Hätten Sie Hilfe geholt, wäre Olaf möglicherweise noch zu retten gewesen – das wird ein medizinisches Gutachten noch zu klären haben.« Oda macht eine Kunstpause.
Frau Tiefenbach hält sich wieder tapfer an ihren Vorsatz zu schweigen.
»Die Spurensicherung hat Blutspuren gefunden, an der Wand hinter der Gartenbank.« Oda seufzt. »Die sind ja heutzutage so gründlich, die finden die winzigsten Spritzer, selbst dann noch, wenn man gründlich geputzt hat. Ach ja, und in der Erde im Rosenbeet ist man wohl auch fündig geworden, aber das soll uns jetzt nicht kratzen. Das werden Sie vor Gericht noch in allen Einzelheiten zu hören bekommen. Mein Chef sagt immer, ein forensischer Beweis ist ihm lieber als das schönste Geständnis. Ich bin da anders, ich möchte immer gerne von den Beteiligten hören, wie alles abgelaufen ist und welche Gründe sie für ihr Handeln hatten.«
Frau Tiefenbach schlägt die Beine übereinander und wirft einen Blick in Richtung Decke, als würde sie sich langweilen. Oda sieht sie durchdringend an und sagt: »Luis ist in Panik geraten und weggerannt, nachdem Olaf von der Bank gefallen war. Er hat die Axt aus Versehen mit ins Haus genommen. Dort hat er Ihnen gesagt, was passiert ist. Und warum. Sie haben ihm die Axt abgenommen, sind damit zum Gartenhaus gelaufen und haben dem am Boden liegenden Jungen das Schläfenbein zertrümmert. Hatten Sie Angst, dass Olaf Luis verraten würde, wenn Sie ihn am Leben lassen und Hilfe holen?«
Olivia Tiefenbach antwortet nicht.
»Ich kann Sie sogar verstehen«, meint Oda leichthin. »Hätte ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch gemacht, diesen sadistischen Dreckskerl umgebracht.«
Frau Tiefenbach senkt den Blick.
»Sie denken vielleicht, Luis wird wenig passieren, wenn er an Ihrer Stelle den Mord gesteht. Ist das Ihre Strategie? Hat Ihr Mann das so angeordnet? Er ist doch der große Macher, er ist derjenige, der alles regelt, oder? Weiß er überhaupt, dass Sie es waren, oder denkt er auch, es war Luis?«
Olivia Tiefenbach schluckt, aber sie gibt noch immer keine Antwort.
»Ihr Mann hat die Leiche weggebracht, und er hat Ihnen und Luis genau gesagt, was Sie der Polizei sagen sollen, um sich gegenseitig ein Alibi zu geben. Und er hat sogar Anweisung gegeben für den Notfall, der jetzt eingetreten ist: Luis soll gestehen, er bekommt eine relativ kurze Jugendstrafe, oder ein Psychiater bescheinigt ihm vorübergehende Schuldunfähigkeit, etwas in der Art. Und Sie gehen straffrei aus und stehen ihm hilfreich zur Seite, bis die Sache ausgestanden ist. So haben Sie und Ihr Mann sich das gedacht, nicht wahr?«
Frau Tiefenbachs Mundwinkel zucken, endlich bricht es aus ihr heraus: »Und wenn es so wäre? Stellen Sie sich vor – rein hypothetisch –, mein Mann und ich wären im Gefängnis. Dann käme Luis in ein Jugendheim, und man weiß doch, wie es dort zugeht. Da sind lauter solche … solche Typen wie Olaf. Und noch schlimmere!«
»Glauben Sie wirklich, im Jugendknast ist das besser? Haben Sie eine Ahnung, wie es da so zarten, sensiblen Jungs wie Luis ergeht?«
Frau Tiefenbach ringt nach Luft.
Oda schlägt erneut in die Kerbe: »Wenn Sie gestehen, hätte er wenigstens die Chance, in einer guten Pflegefamilie groß werden zu können. Er ist ja nett und intelligent, seine Chancen stehen gut.«
Jetzt laufen zwei Tränen über die Wangen der Frau. Oda lässt sich davon nicht erweichen, sie fixiert ihr Gegenüber mit eisblauen Augen und fragt: »Weiß Luis eigentlich, dass Sie es waren, die Olaf den Rest gegeben hat? Opfert er sich für Sie auf, weil sein Vater ihm erzählt hat, dass ein ›richtiger Kerl‹ das für seine Mutter tun würde?
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