Todesstoß / Thriller
habe zu tun«, unterbrach Eve. In den nächsten Stunden konnte sie nichts wegen Martha oder den anderen Probanden unternehmen, aber Callies Test war überhaupt keine willkommene Ablenkung.
›Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?‹ Ich hasse solche Tests.
Was natürlich der Grund war, warum Callie immer wieder davon anfing. »Hör zu, Cal, ich habe deine Schicht übernommen, damit du heute ausgehen kannst.«
Callie zuckte mit den bloßen Schultern. Sie trug ein sexy Cocktailkleid. »Netter Versuch. Aber du vergisst, dass ich schon jemanden hatte, der für mich einspringen wollte. Du solltest eigentlich lernen, aber du bist hier und schiebst es vor dir her.«
Sie hatte recht. Eve nahm je drei Krüge gleichzeitig hoch und biss die Zähne gegen den Schmerz in ihrer rechten Hand zusammen. Aber da sie bis vergangenes Jahr mit dieser Hand nicht einmal eine einzige Tasse hatte halten können, war der Schmerz ein geringer Preis für das Plus an Beweglichkeit. Und Unabhängigkeit.
Sie reichte die Krüge einem Stammgast hinüber und verzog den funktionierenden Teil ihres Mundes zu dem Drei-Punkte-Lächeln, das nach jahrelanger Übung nun normal wirkte. »Normal« stand auf ihrer Liste der erstrebenswerten Eigenschaften ganz oben neben Beweglichkeit und Unabhängigkeit.
»Sie geben heute Abend eine Runde nach der anderen aus, Jeff«, sagte sie und streckte heimlich die Finger, »trinken aber selbst keinen Tropfen.« Das war eher unüblich. »Haben Sie eine Wette verloren?«
Officer Jeff Betz war ein großer Kerl mit einem sympathischen Grinsen. »Sagen Sie bloß meiner Frau nichts. Sie bringt mich sonst um.«
Eve nickte wissend. »Niemals. Barfrauen schweigen wie ein Grab. Das gehört zur Berufsehre.«
Er begegnete dankbar ihrem Blick. »Ich weiß«, sagte er, dann wandte er sich an Callie. »Verabredet?«
»Und ob.« Callie nickte. Sie hatte keine Probleme mit den Blicken, die sie unverhohlen musterten, seit sie in dem knappen Kleid und halsbrecherisch hohen Pumps ins Sal’s hineingeschwebt war. Falls sie ihre nächste Schicht in diesem Aufzug antrat, würde sie deutlich mehr Trinkgeld einstreichen. Nicht, dass Callie so etwas nötig gehabt hätte.
Callie finanzierte ihr Jurastudium hauptsächlich mit einem Job im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Seit kurzem verdiente sie sich allerdings am Wochenende ein paar Extradollar im Sal’s hinzu, und ihr Trinkgeldglas war stets bis zum Rand gefüllt. Würde sie sich in einem solchen Kleid und mit diesem Ausschnitt hinter die Theke stellen, brächte sie das Fass zum Überlaufen. Sozusagen.
Blieb zu hoffen, dass Callies Kleid ihren Chef nicht auf dumme Ideen brachte, dachte Eve finster.
So etwas würde ich nie und nimmer anziehen, Trinkgeld hin oder her.
Eve unterdrückte den Neid. Callie war weder affektiert noch arrogant, sondern einfach nur eine schöne Frau, die sich in ihrer Haut wohl fühlte. Was Eve schon lange nicht mehr von sich behaupten konnte.
Sie zwang sich zu einem lockeren Tonfall. »Da will sie jemand ins
Chez León
ausführen.«
Jeff stieß einen Pfiff aus. »Wow, großzügig.« Dann runzelte er die Stirn. »Kennen wir den Burschen?«
»Wir« bezog sich auf jeden einzelnen Cop, der regelmäßig im Sal’s einkehrte – und sowohl Callie als auch Eve wussten das. Achtzig Prozent von Sals Stammkunden waren Polizisten, weshalb die Bar einer der sichersten Orte in dieser Stadt war. Sal, der ebenfalls viele Jahre im Dienst gewesen war, gehörte zu ihnen und damit auch alle, die auf seiner Gehaltsliste standen. Es war, als hätte man gut hundert große Brüder. Ziemlich nett, wie Eve fand.
»Ich glaube nicht«, meinte Callie. Ihre Verabredung war ein Verteidiger, und dieser Berufsstand war bei Polizisten nicht gerade beliebt. Auch Callie hatte Vorbehalte, was genau der Grund dafür war, warum sie sich mit ihm verabredet hatte. Callie stellte ihre eigene Weltsicht stets in Frage, und dafür bewunderte Eve sie. »Aber er lässt sich Zeit, daher versuche ich gerade, mit Eve einen kleinen Test zu machen.«
»Ist das nicht diese
MSP
-Postille mit Jack Phelps auf dem Cover?«, fragte Jeff und verzog die Lippen.
MSP
war
das
Frauenmagazin, das Klatsch, Kultur und kommunale Belange für den Großraumbereich Minneapolis–St. Paul, die »Twin Cities«, abdeckte. Ein kürzlich erschienener Artikel über die Abteilung Mordaufklärung hatte aus vielen von Sals Stammgästen über Nacht Berühmtheiten gemacht. Der Artikel war gut geschrieben, hatte jedoch die
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