Todesstunde
Meter hohen, karamellfarbenen Holzregalen gesäumt, an der sieben Meter hohen bemalten Decke hingen Rokoko-Kronleuchter aus Messing. Berger ging an den langen Tischen vorbei, an denen ernst aussehende über Dreißig- und Vierzigjährige mit Ohrstöpseln saßen, den Blick starr geradeaus auf ihre Laptops gerichtet. Doktoranden oder begeisterte Autodidakten. Dieser fleißige Haufen verkniff sich an diesem Wochenende den Ausflug in die Hamptons.
Berger setzte sich an den hintersten Tisch, mit dem Rücken zur Tür der Abteilung für seltene Bücher des Brooke-Russell-Astor-Lesesaals, und tat so, als spielte er Sudoku auf seinem schicken, neuen iPhone, bis die einzige Person am Tisch, eine schwangere Asiatin in Sportanzug, zwanzig Minuten später aufstand.
Als sie davonwatschelte, holte Mr. Berger noch einmal tief Luft und ließ sie langsam wieder ausströmen, bevor er unter dem Tisch ein Paar Einmalhandschuhe anzog und die Bombe aus seiner Laptop-Tasche holte.
Sie sah aus wie ein Siebzehn-Zoll-MacBook. Doch an die Stelle der Tastatur, des Touchpads und des Innenlebens hatte er zwei Kilo T-4 gepackt, die italienische Variante des Plastiksprengstoffs RDX. Auf dem vanillefarbenen Material lag eine Schicht spitzer Pappnägel wie silberne Streusel auf dem Kuchen des Teufels.
Den Gehäuseboden hatte er mit einem gelartigen Klebstoff präpariert. Berger drückte das Gerät fest auf den Tisch vor sich.
Die Zündkapsel hatte er bereits in den Sprengstoff eingeführt. Sie musste jetzt nur noch mit Strom versorgt werden. Dies würde geschehen, wenn jemand den Laptop entdeckte und den Fehler beging, ihn zu öffnen. Gleich unter dem Deckel hatte er mit einer Angelschnur einen Quecksilberschalter befestigt, ein raffiniertes, thermometerähnliches Glasröhrchen, das für die Signale in Münzautomaten verwendet wurde. Bei geschlossenem Deckel konnte man mit dem improvisierten explosiven Apparat Frisbee spielen. Würde man den Deckel auch nur fünf Zentimeter anheben, würde sich das flüssige Quecksilber über den Boden des Schalters und die elektrischen Anschlüsse ergießen und das Gerät in die Luft fliegen lassen.
Mr. Berger stellte sich vor, wie die Schockwelle durch den vollen Rose-Lesesaal waberte und sich die tödlichen Schrapnelle in alle Richtungen mit vierfacher Schallgeschwindigkeit ausbreiteten, um innerhalb von fünfzehn Metern alles und jeden zu zerfetzen.
Er streifte seine Handschuhe ab und erhob sich mit der jetzt leeren Laptop-Tasche, bedacht darauf, nichts zu berühren. Er durchquerte den Saal und trat durch die Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Der Anfang ist gemacht, dachte er mit einem Gefühl umwerfender Erleichterung, als er die Marmortreppe erreichte. Ab jetzt begann ein Wettlauf gegen die Zeit.
Auf die Plätze, fertig …
»Wumm«, flüsterte Berger glücklich und nahm gleich zwei Stufen auf einmal.
E RSTER T EIL P ACK DIE B ADEHOSE EIN …
1
»Zehn kleine Fische, die schwimmen durch das Meer«, trällerte ich begeistert mit geschlossenen Augen und hoher Stimme. »Und zehn fette Kinder schlendern am Strand umher.«
Dieses Lied schien mir für unseren Spaziergang auf dem sandigen Weg am blaugrauen Atlantik bestens geeignet zu sein. Leider war ich der Einzige, der so dachte. Den Bruchteil einer Sekunde später antworteten meine zehn Kinder mit einem Chor von Ächzern und Buhrufen.
Dennoch verbeugte ich mich wie gewohnt voller Anmut und Würde. Man durfte nie zeigen, wie sehr man schwitzte, auch nicht im Sommer, was, wenn man es genau nimmt, ziemlich schwierig ist.
Mein Name ist Mike Bennett, und soweit ich weiß, bin ich immer noch der einzige Polizist beim NYPD, dem New York Police Department, der ein Leben wie in einer Reality-Fernsehshow führt. Meine besser gelaunten Kollegen nennen mich Detective Mike plus zehn. Eigentlich bin ich aber Detective Mike plus elf, wenn man meinen Großvater Seamus dazuzählt. Was ich jedenfalls tue, da er unverbesserlicher ist als alle meine zehn Kinder zusammen.
Es war der Beginn der zweiten Woche der von meiner riesigen Familie dringend benötigten Ferien draußen in Breezy Point in Queens, und ich war voll auf Faulenzen geeicht. Das 170 Quadratmeter große Haus draußen an der »irischen Riviera« – so genannt von den Polizisten und Feuerwehrleuten, die hier ihren Sommerurlaub verbringen – befand sich seit einer Generation im Besitz der Familie meiner Mutter. Es war dichter bevölkert als ein Karnickelstall, doch wir hatten jede Menge Spaß
Weitere Kostenlose Bücher