Todessymphonie (German Edition)
KAPITEL
Für Gavins Geschmack kam der Tagesanbruch viel zu früh. Er und Tommaso waren seit drei Stunden auf der Flucht. Sie hatten Florenz im Schutz der Dunkelheit verlassen und waren dann auf schmalen, gewundenen Straßen durch die Florentiner Hügel zu einer kleinen Steinhütte gefahren, in der es weder Strom noch fließend Wasser gab. Die Entdeckung von Gavins Fehlern in Nashville durch Tommaso hatte sie schnell und verzweifelt handeln lassen. Doch ihr Wunsch, so viel Distanz wie möglich zwischen sich und Florenz zu legen, wurde dadurch vereitelt, dass Tommaso davon ausging, dass man inzwischen Fotos von ihnen hatte. Sie konnten nicht sofort in ein anderes Land reisen, aber Tommaso hatte gesagt, dass er noch einen Unterschlupf in London hätte, zu dem sie fliehen würden, sobald ihm ein Weg eingefallen war, die Grenze ungesehen zu überqueren. Er ging nicht davon aus, dass das FBI auch davon Kenntnis besaß.
Wilde Flüche ausstoßend, hatte Tommaso seinen winzigen, zehn Jahre alten Renault durch die Hügel zur Hütte gelenkt. Sie luden alle ihre Sachen – Essen, Decken, Kerzen – in dem rustikalen Unterschlupf ab und fuhren dann fünf Meilen weiter, wo sie das Auto über eine Böschung rollen ließen und mit Zweigen und Gras bedeckten. Danach kehrten sie zu Fuß zur Hütte zurück und versuchten, ihre Fußspuren auf dem staubigen Weg zu verwischen. Außer einer Kuh begegnete ihnen kein Lebewesen, und Tommaso versicherte Gavin, dass sie hier sicher wären.
Das hier war sein sicheres Haus, sein Labor, seine Welt. Es hatte ihm in all den Jahren, in denen er gemordet hatte, sehr gute Dienste geleistet und würde sie nun auch beherbergen.
Gavin kam nicht mehr gegen seine Erschöpfung an. Tommaso hatte Mitleid und erlaubte ihm, sich neben der klammen, kalten Feuerstelle zusammenzurollen und ein wenig zu schlafen. Sie konnten kein Feuer machen, denn jemand könnte den Rauch sehen, der aus dem Schornstein steigen würde.
Gavin erwachte, als Tommaso ihn an der Schulter rüttelte. Er wusste, dass er nicht länger als eine, maximal zwei Stunden geschlafen haben konnte. Kleine Sonnenstrahlen fielen auf den gefliesten Fußboden. Es war Morgen.
„Ich habe ein Geschenk für dich.“ Tommaso lächelte ihn strahlend an. Der Ärger der letzten Nacht schien vergessen.
Gavin streckte sich und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Er hatte einen komischen Geschmack im Mund. Er wusste, dass er sich die Zähne putzen und das Gefühl des Versagens beseitigen musste, dass er die letzten Stunden ausgeatmet hatte. Er folgte Tommaso aus dem winzigen Schlafzimmer und blieb abrupt stehen. Alle Sorgen waren vergessen.
Sie lag auf der roh gezimmerten Holzplatte, die als Küchentisch diente. Ihr Körper war klein und so zart wie ein Vogel. Ihre Fingerknochen waren so zerbrechlich, ihre Haut so blass, dass Gavin ihre Adern hindurchschimmern sah. Neben ihr stand Tommaso und strahlte eine beinahe überschäumende Schönheit aus. Er stand so still, dass er aussah wie ein marmorner Adonis.
„Willst du sie?“, fragte Tommaso.
„Das ist deine Puppe. Du hast mir ihr Foto geschickt. Oh Tommaso, sie ist so schön.“
„Jetzt ist sie deine Puppe.“
Gavins Trieb überwältigte ihn. Er hatte noch nie eine gehabt, die so klar, so rein war. Sein üblicher Typ war dunkelhäutig; er hatte noch nie zuvor ein weißes Mädchen geliebt. Die winzigen Knospen ihrer Brüste lagen unbeweglich da und hoben sich rosafarben von ihrer alabasterfarbenen Haut ab. Ihre Scham war mit weichen, blonden Haaren bedeckt, wie der Flaum eines Hühnerkükens. Ihr ausgemergelter Körper schien förmlich nach seiner Umarmung zu schreien. Die tief violettfarbenen Druckstellen an ihrem Hals waren eine Kette aus Lust und Liebe, aus Bedauern und Vergebung. Tommaso hatte das für ihn getan.
Er berührte seinen Bruder an der Schulter und stand dann neben ihm. Seite an Seite. Sie erschauerten beide. „Ich habe sie für dich hierhergebracht, Gavin. Ich wollte dir das Beste von mir geben. Ich habe immer von uns beiden geträumt, davon, wie ein Mensch zu handeln, zu teilen. Es tut mir leid, wie ich mich gestern Abend benommen habe.“
„Wie heißt sie?“, keuchte Gavin. Er fuhr mit den Fingern über den Arm des Mädchens, fuhr die Linien entlang, in denen jetzt kein Blut mehr floss.
„Ich weiß es nicht. Es ist egal. Sie ist deine. Sie ist unsere.“
43. KAPITEL
Taylor und Baldwin betraten das Gebäude der Carabinieri um acht Uhr morgens zu ihrer Verabredung mit Luigi
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