Todessymphonie (German Edition)
hatte, als sich das Leben zu nehmen? Sein Brief erklärte seine Gründe, die Kälte seines Vaters, seine Unfähigkeit, etwas richtig zu machen. Taylor hatte immer vermutet, dass noch mehr dahintersteckte, aber nie einen Beweis dafür gehabt.
Traurigkeit überwältigte sie. Sie schaute den jungen Mann auf dem Tisch an und fragte sich, was ihn in diese Verzweiflungstat getrieben hatte.
„Weißt du, warum?“, fragte Taylor. „Was ihn dazu gebracht hat? Gab es einen Abschiedsbrief?“
„Nein, den gab es nicht. Aber eine ganze Menge analer Risse. Es ist ziemlich offensichtlich, dass er über einen längeren Zeitraum sexuell missbraucht worden ist. Ich bin mir nicht sicher, wie seine Geschichte sich genau anhört, aber er hat in diesem Staat keine biologischen Eltern. Er lebte in einer Pflegefamilie.“
Taylor spürte, wie in ihrer Seele die Wut hochkochte. „Also haben wir es inzwischen mit Pflegekindern zu tun, die vergewaltigt werden und sich dann selber erschießen. Mein Güte, Sam.“
McKenzie drehte sich auf seinem Hocker herum und schaute sie an. „Ich hatte eine Freundin, die sich umgebracht hat. Das war fürchterlich.“ Er drehte sich wieder weg, und Taylors und Sams Blicke trafen sich. Dieses Gefühl kannten sie nur zu gut.
Sam gab einem ihrer Assistenten ein Zeichen. „Könntest du das hier für mich zu Ende machen? Er ist dann gleich als Nächstes mit der Autopsie dran.“
Sie ging zwei Tische weiter zu dem aufgebahrten Leichnam des Opfers von letzter Nacht, zog ihre Handschuhe aus und ersetzte sie durch ein frisches Paar.
McKenzie folgte ihnen nur widerstrebend. „Die Fingerabdrücke sind zurück. Ihr Name ist Allegra Johnson.“
Taylor schaute das Mädchen an, das so durchscheinend und zerbrechlich wirkte. Der Edelstahltisch ließ sie noch kleiner aussehen, als wäre sie noch ein Kind. Der Wundkanal, den das tief in ihre Brust gesteckte Messer hinterlassen hatte, glitzerte unter dem grellen Licht, ein wütender Schlitz.
„Sie war im System?“
„Ja. Anbahnung zur Prostitution. Schockierend. So ein dünnes Mädchen wie sie – da habe ich gleich an Drogen und Prostitution gedacht“, sagte er.
Sam und Taylor tauschten erneut einen Blick. Taylor atmete tief ein. „McKenzie, lass den Sarkasmus sein. Wenn es um ein Opfer geht, darfst du niemals etwas annehmen oder voraussetzen. Damit pflanzt du dir nur Ideen in den Kopf und versuchst dann, den Tatort und die Beweise so zu interpretieren, dass sie einen Sinn ergeben. Es könnte tausend andere Erklärungen für ihre körperliche Verfassung geben. Sie könnte krank sein, obdachlos, nicht in der Lage, sich selber mit Essen zu versorgen. Sie könnte ein rein zufälliges Opfer sein. Wir wissen nicht, warum sie ausgewählt wurde. Und wir werden es auch erst erfahren, wenn wir eine ausführliche Viktimologie erstellt haben, okay?“
McKenzie runzelte kurz die Stirn und dachte darüber nach. Was sie gesagt hatte, schien für ihn einen Sinn zu ergeben, denn seine Stirn glättete sich und er nickte. „Okay“, sagte er. Vielleicht war ihn auszubilden doch nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte.
Sam räusperte sich und ein anderer Assistent, ein stiller Mann namens Stuart Charisse, dessen fröhlich krause Haare so gar nicht zu ihm passen wollten, trat an den Tisch, um ihr zu helfen. Er fing an, Fotos zu machen, während Sam das Mikrofon einschaltete, das an ihrer Stirnlampe befestigt war, und anfing, zu diktieren. Taylor hörte nur mit halbem Ohr zu, als Sam die Einzelheiten aufnahm – Datum, Zeit, wer anwesend war, all die Kleinigkeiten, die für einen formellen Autopsieprozess notwendig waren. McKenzie stand neben ihr und nickte im Takt mit Sams leidenschaftslosem Vortrag mit dem Kopf.
Allegras Leiche war ein Häufchen Erbärmlichkeit. Jeder Knochen war klar definiert; Taylor konnte jede einzelne Rippe zählen. Das Mädchen sah aus, als wäre sie wortwörtlich dahingesiecht.
Sam fing mit der Untersuchung an. „Der Körper ist der einer unterernährten einundzwanzig Jahre alten Afroamerikanerin, die jünger aussieht als ihr verzeichnetes Alter. Zugestellt wurde die Leiche der Gerichtsmedizin nackt, mit feinem Faden an einen Holzpfosten gebunden, der zwei Meter lang und je vierundzwanzig Zentimeter breit und tief ist. Der Faden war um die Stirn gewickelt, um die Handgelenke, den Oberkörper, Taille, Hüfte, Oberschenkelund die Füße des Opfers.“ Sam schaltete das Mikrofon aus.
„Es war ein ganz schöner Akt, sie von dem Pfosten
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