Todessymphonie (German Edition)
ihre Gedanken im Auto zurück und betrat das Gebäude an der Gass Street. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Seufzen. Die Gerüche waren so vertraut, dass sie sie manchmal schon gar nicht mehr wahrnahm, aber heute fühlte sie sich, als befände sie sich im Biologielabor ihrer Highschool. Der durchdringende, künstliche Geruch von Formalin, der Geruch nach Tod. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie fragte sich manchmal, wie Sam das aushielt, wie sie jeden Tag die Schwelle zu diesem Gebäude übertreten und hier arbeiten konnte. Sie ließ die Zwillinge mit einem Kindermädchen zu Hause und wurde für zehn Stunden am Tag ein anderer Mensch.
Taylor wünschte sich, das auch zu können. Einfach zu morphen, jemand anderer zu werden, jemand, der nicht die ganze Zeit an den Tod denken musste. Sie wusste, das würde nie passieren. Sie würde ihre Vorstellung von der Arbeit bei der Polizei gegen nichts austauschen wollen. Es war ihr wichtig, die zu sein, die sie wirklich war, die Person, die sie von Anfang an hatte sein wollen. Vier Tote auf ihrem Gewissen, alle vorsätzlich erschossen, aber alle gerechtfertigt. Sie war Polizistin. Es war ihr Job. Das waren die Dinge, die sie tun musste, um zu überleben und die Sicherheit der Leute um sich herum, die der Fremden, die derjenigen, die sie liebte, zu gewährleisten.
Am Empfang saß Kris, ein lächelndes Mädchen mit butterblonden Haaren und zu großen Brustimplantaten. Sie hatte sie erst kürzlich machen lassen, und noch waren sie nicht gesackt; sie standen hervor wie zwei mit Wasser gefüllte Ballons. Sie winkte Taylor, wobei ihre Brüste fröhlich hüpften. Taylor winkte zurück und ging zu der Tür, die zu der Luftschleuse führte, die den Verwaltungstrakt von dem Bereich trennte, in dem die eigentliche Arbeit erledigt wurde. Sie zog ihre Karte durch, und das Schloss öffnete sich.
Die Umkleidekabine war leer. Taylor zog sich einen sterilen Kittelüber ihre Kleidung, schlüpfte in blaue Plastikclogs und ging durch die kleine Schleuse in den Autopsiesaal. Renn McKenzie saß auf einem Hocker und schaute überall hin, nur nicht dahin, wo er hinschauen sollte. Sonnenlicht fiel aus dem Deckenfenster auf sein Haar und ließ die blonden Strähnen an seinen Schläfen silbern aufblitzen.
Sam wusch die Leiche eines Teenagers. Sie tat es langsam und mit einer gewissen Ehrfurcht. Taylor spürte ihre Intensität, die Sehnsucht, das an diesem jungen Mann begangene Unrecht wiedergutzumachen. Es war herzzerreißend mit anzusehen, wie sie ihm das Haar aus der Stirn strich, eine braune Tolle, die von einer karamellfarbenen Strähne durchzogen wurde, als wäre er tagelang in der Sonne gewesen. Beim näheren Hinsehen erkannte Taylor, dass sein Kopf flach auf dem Plastiktablett lag. Nein, das stimmte nicht. Es war nur sein Gesicht, direkt auf dem Tisch. Seinen Hinterkopf gab es nicht mehr, er war praktisch zweidimensional.
„Was ist ihm zugestoßen?“
Sam erschreckte sich und schaute Taylor dann schuldbewusst an. Sie war dabei ertappt worden, wie das Schicksal ihres Kunden sie berührte. Als sie erkannte, dass es nur Taylor war, entspannte sie sich und fuhr fort, das Haar des Jungen zurückzustreichen. Erst da sah Taylor, dass sie dazu einen sehr feinzahnigen Kamm benutzte, um Spuren zu sichern.
„Erinnerst du dich an Alex aus der Schule? Meinen Französischnachhilfelehrer?“, fragte Sam.
Taylor erinnerte sich. Wie könnte sie ihn je vergessen? „Ja, klar.“
„Unser Junge hier hat sich eine Flinte in den Mund gesteckt und den Abzug gedrückt. Er hat es selber getan. Der Dummkopf. Genau wie Alex.“
Sams Stimme war belegt. Sie hatte in Alex immer mehr als nur einen Nachhilfelehrer gesehen. Sam war jahrelang höllisch in ihn verknallt gewesen, doch Alex hatte ihre Schwärmerei nicht erwidert. Er war ein trauriger Junge. Tiefschwarzes Haar und dazu passende Augen, verborgene Narben innerhalb der Iris.
Als sie in der zehnten Klasse waren, ertrug Alex die Qualen des Lebens nicht mehr länger. Er schrieb einen langen Abschiedsbrief, erklärte seine Handlung, lud das Jagdgewehr seines Vaters, schob sich den Lauf zwischen die Lippen und erschoss sich. Den Abzug hatte er mit dem großen Zeh betätigt.
Damals war es für sie unbegreiflich gewesen. Wie betäubt hatten sie bei Freunden zu Hause zusammengesessen, Bier getrunken, geraucht und gegrübelt. Was im Leben eines Fünfzehnjährigen konnte so schlimm sein? Wie war seine Welt so zerstört worden, dass er keinen anderen Ausweg gesehen
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