Todeswald
Ich brauchte mir bloß vorzustellen, wie es wäre, wenn jemand den ganzen Unsinn verbreiten würde, den ich von mir gab, wenn ich wütend war!
Ich versuchte eine Lösung zu finden, doch stattdessen fielen mir nur immer neue Fragen ein. Ich beschloss, erst mal in aller Ruhe abzuwarten.
Aber Samuel Wester anzurufen und so zu tun, als käme der Anrufvon einer Autowerkstatt, das war unmöglich. Er würde meine Stimme sofort erkennen und glauben, ich hätte es auf ihn abgesehen.
Es musste eine andere Möglichkeit geben, um herauszufinden, ob sein Auto in einer Werkstatt gewesen war.
KAPITEL 14
„Svea“, sagte Mama. „Svea, mein Schatz!“
Dass meine Mutter mich weckt, ist alles andere als normal. Das tut sie höchstens, wenn ich verschlafen habe, und dann meistens mit einem lautstarken „Raus mit dir, du Schlafmütze!“.
Jetzt sagte sie nur meinen Namen, ganz sanft, als würde ich ihr irgendwie leidtun.
Sie stand auf der Türschwelle zu meinem Zimmer und sah mich mit einem Blick voller Trauer an, bevor sie hereinkam.
Mein Herz begann wie wild zu hämmern. Bestimmt war was mit Papa! Er hatte einen Unfall gehabt. Und ich, ich war so fies zu ihm gewesen!
„Lebt er?“, flüsterte ich und setzte mich auf.
Meine Stimme klang krächzend.
Mama, die schon mit offenen Armen bereitstand, sah mich verwirrt an.
„Wer?“
„Papa.“
„Klar tut er das!“
„Ist es Oma? Opa? Oder lasst ihr euch scheiden?“
Die Worte sprudelten nur so heraus.
„Aber liebes Kind!“
Mama zog die Jalousie hoch. Warum sagte sie nichts?
Der Regen trommelte auf das Blechdach über dem Balkon. Das Wasser bildete ständig wechselnde Muster auf der Fensterscheibe.
„Man hat Mikaela gefunden“, sagte sie leise.
Erleichtert sank ich aufs Kissen zurück. Wenn es sonst nichts war! Typisch Mama, eine so große Sache daraus zu machen. Aber als Künstlerin sieht sie das Leben als ein einziges großes Drama.
„Garantiert hatte sie sich bei Oscar verkrochen, stimmt’s?“
Mama schluckte hörbar und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich wünschte, ich könnte es dir irgendwie schonender beibringen, aber …“
Ich erstarrte erneut, fühlte mich ganz leer und kalt.
Schon eine Sekunde bevor sie es aussprach, wusste ich, was sie sagen würde.
„Sie ist tot“, sagte sie.
Als sie die Worte aussprach, löste sich meine Erstarrung. Ich begann am ganzen Körper zu zittern.
Mama breitete wieder die Arme aus und sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Und ich kroch aus dem Bett und lief direkt in ihre Umarmung.
KAPITEL 15
Es zog mich dorthin. Und nicht nur mich. Auf dem schmalen Schotterweg hatten sich viele Menschen versammelt. Bleich und ernst standen sie in Grüppchen zusammen und fröstelten im Regen. Ich sah viele bekannte Gesichter, Nachbarn, Mitschüler. Einige weinten.
Die Leute unterhielten sich gedämpft, bewegten sich langsam und würdevoll, wie bei einer Beerdigung. Eine gewisse Verlegenheit spielte auch mit und die Befürchtung, sie könnten für sensationslüsterne Aasgeier gehalten werden. Und dabei waren wir ja genau das. Was sonst hatten wir dort verloren? Etwas Nützliches taten wir jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil. Die Polizeifahrzeuge mussten vorankriechen, um niemanden in der Menschenansammlung zu überfahren.
Mikaelas Leiche war im Wald gefunden worden, jetzt war ein großes Waldstück von den Plastikbändern der Polizei abgesperrt. Die Bänder waren blau-weiß, als wäre Mama da gewesen, um sie anzumalen.
Vor der Absperrung brannten schon ein paar Grablichter zwischen schlichten kleinen Blumensträußen und vereinzelten Rosen. Daraus würden bestimmt noch mehr werden.
Journalisten liefen umher und richteten ihre Fragen an jeden, der fotografiert werden oder reden wollte. Die Vorsitzende unseres Ortsvereins stand gerade vor einer Fernsehkamera. Ich hörte sie mit bebender Stimme sagen, niemand hätte es für möglich gehalten, dass so etwas in unserer idyllischen Wohngegend passieren könnte. Ein Fotograf machte außerdem eine Aufnahme, wie sie mit düsterer Miene auf den Wald wies, als wollte sie ihre Äußerung unterstreichen.
Linus und ich hielten uns abseits, um den Fragen zu entgehen. Linus war eine Viertelstunde früher als ich gekommen und erzählte, die meisten seien inzwischen interviewt worden, egal ob freiwillig oder nicht. Aber als man ihn selbst habe befragen wollen, habe er behauptet,nicht hier zu wohnen und nur aus Neugier hergekommen zu sein. Er riet mir, das Gleiche zu sagen. Aber
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