Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
erinnerte sich Grohmann. »Ich finde es allerdings etwas kurzsichtig, allein elterliche Verfehlungen für eine derartige Entwicklung verantwortlich zu machen.«
Jennifer fragte sich unwillkürlich, ob er Kinder hatte. So dachten normalerweise nur Eltern. »Lesen Sie das Dossier der Bewährungshelferin, vor allem die Berichte von Charlotte Seydels Psychotherapeutin. Die Mutter war Charlottes einzige Bezugsperson, und von ihr erhielt sie vollkommen gegensätzliche, hauptsächlich jedoch negative Signale. Ihre Mutter hat sie in ihrer Kindheit emotional und psychisch vernachlässigt. Sie war auf sich allein gestellt, seit sie laufen konnte.«
Dem Staatsanwalt entging nicht, dass seine Bemerkung Jennifer etwas verstimmt hatte. »Jetzt ist sie ja in Behandlung«, sagte er deshalb in versöhnlichem Tonfall.
Jennifer nickte. »Sie nimmt ihre Therapie offenbar sehr ernst. Diesmal. Der Akte zufolge ist sie allerdings auch bis oben hin vollgepumpt mit Antidepressiva und anderen Wundermitteln.«
»Und dann nimmt sie noch Drogen?«
Grohmann überraschte Jennifer. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich zu derart schnellen Schlussfolgerungen hinreißen lassen würde. »Sie wohnt offensichtlich mit Leuten zusammen, die Drogen konsumieren, hat das Zeug aber selbst seit Jahren nicht mehr angerührt. Ihre Bewährungsauflagen sehen regelmäßige Tests vor … alle negativ.«
»Ich verstehe es trotzdem nicht«, wiederholte Grohmann seufzend. »Sie kann offenbar nicht gut mit Polizisten, und dann will sie selbst Polizistin werden?«
Jennifer warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Forensiker sind keine Polizisten. Außerdem hätte sie mit einem Master von der ESC in jedes Land ihrer Wahl gehen können. Nicht überall lässt einen der Arbeitsmarkt immer und ewig für seine Fehler büßen. Wenn Sie in Deutschland kein sauberes Führungszeugnis haben, bekommen Sie ja nicht mal die niedrigsten Jobs.«
»In Zeiten, in denen für einen Job als Sekretärin schon Abitur verlangt wird, gehen die niedrigsten Arbeiten nun mal an die Leute mit Realschulabschluss und Berufsausbildung.«
»Sicher«, erwiderte Jennifer mit gelangweiltem Tonfall. Sie hatte keinerlei Interesse an einer politischen Diskussion. »Und die Hauptschüler müssen angeblich ohnehin nur noch lernen, wie man die Antragsformulare für Hartz IV richtig ausfüllt.«
»Leider gibt es Leute, die das glauben«, kommentierte Grohmann.
Jennifer zuckte die Schultern. »Es gibt immer Grauzonen, nicht nur Schwarz und Weiß. Leider trifft man in unserem Job zu viele Menschen, die den schwarzen Farbtopf erwischt haben und mit jedem Tag tiefer darin versinken.«
Die Unterhaltung hatte sich erschöpft, und der Staatsanwalt kehrte zum Ausgangsthema zurück. Mit einem Blick auf das Whiteboard sagte er: »Ich beuge mich Ihrer Expertise und streiche Charlotte Seydel von der Liste der Verdächtigen, in der Annahme, dass ihr überdurchschnittliches Wissen und ihr Interesse an unserem Fall tatsächlich rein fachlicher Natur ist. Auch wenn ich sie jetzt noch mehr als zuvor für eine tickende Zeitbombe halte. Sie hat einen Fahrradfahrer zusammengeschlagen, weil er über einen Fußgängerüberweg gefahren ist und sie angerempelt hat. Was kommt wohl als Nächstes?«
Als Jennifer darauf nicht reagierte, fragte er schließlich: »Okay, wo wollen wir anfangen?«
Charlotte setzte sich auf das weiße Ledersofa und verschränkte die Hände im Schoß. Obwohl sie jeden Freitagmorgen hier saß, brauchte sie immer ein paar Minuten, um sich an die hellen, freundlichen Farbtöne und das Plätschern des Zimmerbrunnens zu gewöhnen.
Aus irgendeinem Grund war sie nicht gern allein in diesem Raum. Das schien auch Alina Noack inzwischen aufgefallen zu sein, denn sie ließ Charlotte regelmäßig mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung ein paar Minuten hier zurück, bevor sie mit ihrer Akte wiederkam und das Gespräch eröffnete.
Diesmal ließ sich die Therapeutin wieder besonders viel Zeit. Charlottes Blick wanderte über die Buchrücken der in einem Regal aufgereihten Fachliteratur. Sie hatte sich schon mehrere dieser Bücher selbst besorgt, und auch jetzt prägte sie sich zwei davon ein, die sie allein wegen ihrer Titel ansprachen: »Der Luzifer-Effekt« und »Vergiftete Kindheit«.
Dann tauchte endlich Alina Noack mit Charlottes Akte auf und ließ sich in einem Sessel nieder, der der Couch gegenüberstand. Ihr Blick streifte den Glastisch zwischen ihnen, auf dem eine Wasserkaraffe und Gläser
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