Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Klaren darüber sein, dass Sie nur noch ein Jahr vor sich haben, dann haben Sie einen Abschluss. Sie müssen an Ihren Zielen festhalten. Sie haben doch noch die Karte, auf denen Sie Ihre Ziele formuliert haben, oder?«
Zu Beginn der Therapie hatten sie gemeinsam Charlottes Ziele formuliert. Charlotte hatte sie auf die Rückseite einer Ansichtskarte mit einer wunderschönen Landschaft schreiben müssen und diese gut sichtbar in ihrem Wohnwagen aufhängen sollen. Dort, an der Schranktür, hing sie noch immer. »Ja, natürlich.«
»Hilft sie Ihnen?«
Wenn sie an die dämliche Karte gedacht und sie gelesen hätte, dann vielleicht. Doch meistens starrte sie einfach nur auf die Landschaft und wünschte sich, dort zu sein. In der unberührten Natur, friedlich eingelullt vom Rauschen des Baches und dem Zwitschern der Vögel, dem Geruch von Blüten und frischem Gras.
»Frau Seydel?«
Charlotte kehrte in die Realität zurück. Sie dachte daran, wie sie früher die Karte zur Hand genommen hatte, wenn sie wieder einmal an allem und jedem gezweifelt hatte. »Manchmal, manchmal nicht … Diese Ziele kommen mir oft so vor, als wären sie gar nicht mehr meine eigenen. Als würde ich die Karte einer völlig fremden Person lesen.«
»Sie erinnern sich aber doch daran, dass Sie sich damals ganz bewusst für das Biologiestudium entschieden haben.«
Ja, natürlich erinnerte sie sich daran. Aber damals waren die Voraussetzungen doch noch ganz andere gewesen. Damals hatte man ihr noch nicht die größte Chance ihres Lebens einfach weggenommen. Der Gedanke machte Charlotte von einem zum anderen Moment unglaublich wütend. »Aber mit einer anderen Zielsetzung! Ich wollte an die ESC ! Das kann ich mit einem Bachelor aus Würzburg doch vollkommen vergessen! Und was soll ich dann schon mit einem Biologieabschluss anfangen? Was denn?! Am liebsten würde ich einfach hinschmeißen und was ganz anderes machen, verdammt noch mal!«
Der Ausbruch beeindruckte Alina Noack nicht im Geringsten. Sie blieb vollkommen ruhig. »Hatten Sie denn eigentlich jemals an diesem Ziel Zweifel?
Charlotte runzelte die Stirn. »An welchem?«
»Forensik an der ESC zu studieren.«
»Nein, nie.«
»Dieses Ziel haben Sie nie aus den Augen verloren, und dass es sich zurzeit als unerreichbar darstellt, macht Sie unsagbar wütend. Haben Sie schon einmal hinterfragt, warum es das einzige Ziel ist, das niemals an Bedeutung für Sie verloren hat, das Sie nie in Zweifel gezogen haben?«
Charlottes Antwort bestand lediglich aus einem Kopfschütteln.
»Denken Sie, dass Sie es durchgezogen hätten?«, fragte Alina Noack. »Das Biologiestudium an der Praetorius-Universität hier in Lemanshain, die neuerliche Bewerbung an der ESC , das Forensikstudium, das zu einem Großteil auf Französisch abgehalten wird, einer Sprache, die Sie bisher, soweit ich weiß, nicht unbedingt beherrschen?«
»Sie scheinen Ihre Zweifel zu haben.«
»Bedenken, Frau Seydel. Ich habe ein wenig den Eindruck, dass Sie eine Sache umso intensiver und ernsthafter verfolgen können, desto unerreichbarer sie erscheint.«
»Blödsinn«, konterte Charlotte sofort.
»Möglicherweise. Ich behaupte nicht, dass ich recht habe. Allerdings frage ich mich, warum Ihnen beispielsweise nie der Gedanke gekommen ist, sich etwas anderem aus Ihrem Interessensspektrum zuzuwenden, beispielsweise der Psychopathologie, ein Fachgebiet, das sie ohne größere Probleme studieren könnten. Das sind aber auch nur meine Gedanken. Unabhängig davon sollten Sie sich vielleicht doch einmal fragen, warum Sie sich immer wieder unerreichbare Ziele aussuchen.«
Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust, eine nur allzu deutliche Antwort.
»Sie sagen, Sie wollen etwas ganz anderes als Biologie machen«, nahm die Psychologin den Faden an anderer Stelle wieder auf. »Was genau schwebt Ihnen denn vor?«
Die junge Frau zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Denken Sie, dass es ein annehmbarer Vorschlag wäre, erst einmal bei Biologie zu bleiben, solange Sie nicht genau wissen, was Sie sonst machen wollen?«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen.«
»Denken Sie an die möglichen Konsequenzen.«
Charlotte runzelte die Stirn. »Welche Konsequenzen?«
Wieder dieses verständnisvolle Lächeln. Diesmal befeuerte es allerdings eher Charlottes Wut. »Je nachdem, wie man Ihre Bewährungsauflagen deutet, könnte man annehmen, dass das ernsthafte Verfolgen Ihres Studiums Teil davon ist. Ich muss Ihnen doch nicht erklären, was ein
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