Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
standen, bevor sie ihre Patientin kritisch musterte. Sie hatte es längst aufgegeben, Charlotte etwas zu trinken anzubieten, denn die junge Frau lehnte grundsätzlich ab.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Alina Noack schließlich.
Die immer gleiche Frage, auf die Charlotte die immer gleiche Antwort gab. »Ganz okay«, verbunden mit einem Schulterzucken. Dieser Gesprächsauftakt hatte schon beinahe Tradition.
Ebenso war es Tradition, dass die Psychologin sie damit nicht einfach davonkommen ließ. »Was ist aus Ihrer depressiven Stimmung geworden, die Sie letzte Woche beklagt haben?«, fragte sie. »Sie sehen nicht mehr so betrübt aus.«
Charlotte nickte. »Es geht mir besser.« Was tatsächlich stimmte.
»Warum geht es Ihnen besser?«, hakte die Therapeutin nach. »Haben Sie herausgefunden, was der Auslöser für Ihre Verstimmung war?«
Charlotte schüttelte den Kopf. Sie konnte selten einen Grund für ihre plötzlich auftretende tiefe Betrübnis nennen. Die dunklen Wolken zogen ohne Vorwarnung auf, setzten sich fest, und dann verzogen sie sich irgendwann wieder. Sich über das Warum und Wieso den Kopf zu zerbrechen führte zu nichts.
Auf Alina Noacks Gesicht erschien ein verständnisvolles Lächeln. Für eine Psychotherapeutin war sie noch jung, Anfang vierzig, und sie gehörte zu den wenigen Menschen, deren Freundlichkeit nicht aufgesetzt wirkte.
»Nehmen Sie Ihre Medikamente, Frau Seydel?« Wenn ihre Bewährungshelferin diese Frage stellte, klang das immer misstrauisch bis anklagend, ganz anders bei ihrer Therapeutin.
Woher wusste die Frau nur immer, wohin sie gerade abdriftete? Charlotte nickte. »Ja.«
Alina Noacks Blick wurde kritisch. »Regelmäßig?«
Charlotte zögerte eine Sekunde zu lange. »Frau Seydel, Sie wissen, dass es Ihnen nichts bringt, mich anzulügen. Wir haben doch beide keine Lust, eine Blutabnahme zu veranlassen.«
Die Drohung wirkte. Anfangs hatte Charlotte geflunkert, was ihre Tabletten anging; sie war einfach nicht zum Pillenschlucken geboren. Bis sie feststellen musste, dass Alina Noack genauso wie die Ärzte in der Psychiatrie einen Bluttest anordnen konnte, der die Lügen ihrer Patientin zielsicher entlarvte.
»Meistens regelmäßig«, gestand sie ein.
Ihr Gegenüber machte sich seufzend eine Notiz, doch offenbar war ihre Medikation heute nicht das bevorzugte Thema. »Was hat sich während der letzten Woche so ereignet? Irgendetwas Neues?«
»Nichts, eigentlich … «
»Gibt es etwas, das Sie gerne mit mir besprechen möchten?«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«
»Eigentlich?« Aus irgendeinem Grund versuchte Alina Noack, ihrer Patientin den Gebrauch dieses Wortes auszutreiben. Allerdings benutzte sie es dafür selbst noch viel zu oft.
»Nein, nichts.«
Wieder machte sich die Psychologin Notizen. Charlotte hätte zu gerne gewusst, was sie sich während der Sitzungen aufschrieb. Ihr war sogar schon einmal der Gedanke gekommen, einfach aufzuspringen und Alina Noack die Akte aus der Hand zu reißen. Doch auch heute gelang es ihr, den Impuls zu unterdrücken.
»Wie läuft das Studium?«
Ausgerechnet! Charlotte seufzte. »Könnte besser sein.«
Diese Antwort weckte das Interesse der Therapeutin. »Inwiefern? Nehmen Sie an allen Veranstaltungen teil?«
Charlotte fühlte sich mit einem Mal richtig unwohl. Als sie bemerkte, dass sie verräterisch auf dem Leder herumrutschte, war es bereits zu spät, die Reaktion zu unterdrücken. »An fast allen. Ich versuche mein Bestes.«
Alina Noack forderte sie mit einem Nicken auf fortzufahren.
»Mir fehlt in letzter Zeit häufiger die Motivation. Ich … ich bin mir einfach nicht sicher, ob Biologie wirklich das Richtige für mich ist. Es erscheint mir auf einmal so … sinnlos. Das Lernen an sich macht mir ja Spaß, aber es kommt mir alles vollkommen nutzlos vor … Als würde ich meine Zeit vergeuden.«
Die Therapeutin nickte verständnisvoll. »Dieses Problem tritt nicht zum ersten Mal auf. Wir haben schon sehr oft darüber gesprochen, Frau Seydel. Über Ihre immer wiederkehrenden Zweifel an dem, was Sie tun.«
Charlotte nickte. »Sicher, ja, aber zu wissen, dass die Zweifel meiner Persönlichkeit entsprechen und ich nicht auf sie hören sollte, macht es nicht leichter. Ich kann sie nicht einfach abschalten.«
»Das ist keine leichte Aufgabe, aber Sie können sie genauso gut bewältigen wie andere Menschen auch. Solche Zweifel quälen jeden Studenten vermutlich dutzende Male im Jahr. Sie müssen sich im
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