Todeszeit
Hinsicht wohnst du weit von Ermina entfernt, aber in anderer Hinsicht könntet ihr Nachbarn sein.«
Wenn Holly seine Reaktion richtig interpretiert, dann hat sie mit ihren Worten in ihm mehr Interesse als Verdacht geweckt. Freilich könnte die Annahme, ihn überhaupt korrekt einschätzen zu können, ein tödlicher Fehler sein.
»Merkwürdig«, sagt sie und lässt das Thema fallen.
Er benetzt mit der Zunge seine wunden Lippen, was er zweimal wiederholt. »Ich muss noch einige Vorkehrungen treffen«, sagt er dann. »Das mit der Kette tut mir leid. Sie wird nicht mehr lange nötig sein.«
Nachdem er davongegangen ist, lauscht sie seinen Schritten, die durch riesige, leere Räume hallen, bis sie allmählich verklingen.
Am ganzen Körper erfasst sie ein Zittern, das sie nicht unter Kontrolle bringen kann …
61
Im bebenden Schatten der vom Wind gezausten Steineiben spähte Mitch durch ein Seitenfenster nach dem anderen, bis er schließlich anfing, sich an den Türen der am Bordstein geparkten Fahrzeuge zu schaffen zu machen. War eine nicht verschlossen, dann zog er sie auf und beugte sich hinein.
Wenn der Schlüssel nicht in der Zündung steckte, dann konnte er trotzdem in einem Becherhalter liegen oder hinter einer Sonnenblende stecken. Sobald Mitch an diesen beiden Orten erfolglos nachgeschaut hatte, schlug er die Tür wieder zu und ging weiter.
Trotz seiner verzweifelten Lage war er überrascht, wie dreist er vorging. Da jedoch jeden Augenblick ein Streifenwagen um die eine oder andere Ecke biegen konnte, war Vorsicht ausnahmsweise gleichbedeutend mit Gefahr.
Mitch hoffte, dass die Bewohner dieses Viertels nicht mit genügend Gemeinsinn gesegnet waren, um am Nachbarschaftsschutzprogramm der Polizei teilzunehmen. Sonst hätte der zuständige Beamte ihnen eingeschärft, auf verdächtige Personen – wie Mitch – zu achten und sie umgehend zu melden.
Angesichts dessen, dass man sich in Südkalifornien eher locker gab und dass es sich bei Newport Beach nicht gerade um eine Hochburg des Verbrechens handelte, schloss ein deprimierender Prozentsatz der Leute hier das Auto ab. Angesichts solcher Paranoia wurde Mitch allmählich stinksauer.
Als er bereits zwei Häuserblocks hinter sich hatte, sah er in einer Einfahrt eine teure Limousine stehen, im Leerlauf und mit offener Fahrertür. Am Lenkrad saß niemand.
Auch die Garagentür stand offen. Vorsichtig näherte Mitch sich dem Wagen, doch in der Garage war ebenfalls niemand. Offenbar war der Fahrer ins Haus zurückgelaufen, weil er etwas vergessen hatte.
Natürlich würde der Wagen innerhalb weniger Minuten als gestohlen gemeldet werden, aber das hieß noch lange nicht, dass die Polizei sofort danach suchte. Logischerweise gab es bestimmte Vorschriften, wie ein Autodiebstahl gemeldet werden musste; dadurch entstand Bürokratie, und die führte bekanntlich zu Verzögerungen.
Womöglich blieben Mitch sogar mehrere Stunden, bis das Kennzeichen zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Mehr als zwei Stunden brauchte er nicht.
Weil der Wagen zur Straße hin stand, musste Mitch sich nur hinters Lenkrad schwingen, den Müllbeutel auf den Beifahrersitz werfen und die Tür zuziehen, um geradewegs aus der Einfahrt zu rollen. Auf der Straße bog er nach rechts ab, in Gegenrichtung des Waffenladens.
Ohne sich um das Stoppschild an der nächsten Ecke zu kümmern, bog er gleich wieder rechts ab und hatte schon ein paar Häuser hinter sich gelassen, als er vom Rücksitz her eine dünne, zittrige Stimme hörte: »Wie heißen Sie, junge Frau?«
In der Ecke saß zusammengesunken ein alter Mann. Er trug eine Brille mit unglaublich dicken Gläsern und ein Hörgerät. Die Hose hatte er fast bis zu den Achseln hochgezogen. So, wie er aussah, konnte er gut hundert Jahre auf dem Buckel haben. Die Zeit hatte ihn schrumpfen lassen, allerdings nicht so, dass jeder Körperteil davon gleichmäßig betroffen war.
»Ach, das ist Debbie«, sagte der Greis. »Wo fahren wir hin, Debbie?«
Ein Verbrechen führte zum anderen, und das war nun der Lohn des Verbrechens: der sichere Untergang. Mitch war selbst zum Entführer geworden.
»Fahren wir zur Konditorei?«, fragte der alte Mann mit einem hoffnungsvollen Unterton in der zittrigen Stimme.
Vielleicht litt er an Alzheimer.
»Ja, wir fahren zur Konditorei«, sagte Mitch, während er an der nächsten Ecke wieder rechts abbog.
»Ich mag Torten.«
»Die mag jedermann«, stimmte Mitch bei.
Wenn Mitchs Herz nicht so heftig geschlagen hätte, dass
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