Todeszeit
war blind gewesen. Er konnte hören, doch er war taub gewesen.
Am heutigen Tag, in dieser Nacht, hatte Mitch dem Bösen direkt ins Auge geblickt. Es war so real wie Stein.
Während man auf irrationale Persönlichkeiten durchaus mit Mitgefühl und therapeutischen Maßnahmen reagieren sollte, schuldete man einem wahrhaft bösen Menschen nicht mehr oder weniger als Widerstand und Vergeltung, den Zorn einer rechtschaffenen Gerechtigkeit.
Als einer der beiden Gorillas in Julian Campbells Bibliothek Handschellen aus der Tasche gezogen hatte, da hatte Mitch sofort die Hände ausgestreckt. Auf Anweisungen hatte er gar nicht erst gewartet.
Hätte er nicht erschöpft ausgesehen, hätte er sich nicht so präsentiert, als wäre er gefügig und in sein Schicksal ergeben, so hätte man ihm die Hände womöglich hinter dem Rücken gefesselt. Dann wäre es schwieriger gewesen, nach dem Revolver im Knöchelholster zu greifen, und praktisch unmöglich, die Waffe wirksam einzusetzen.
Campbell hatte sogar nebenbei bemerkt, Mitch sehe erschöpft aus, womit offenkundig in erster Linie eine Erschöpfung von Geist und Herz gemeint war.
Diese Leute glaubten, sie würden den Typ Mann kennen, der er war, und vielleicht war das auch so. Allerdings wussten sie nicht, zu welchem Typ Mann er werden konnte, wenn das Leben seiner Frau auf dem Spiel stand.
Amüsiert von seiner mangelnden Vertrautheit mit der Pistole, die sie ihm abgenommen hatten, war ihnen nicht in den Sinn gekommen, er könnte eine zweite Waffe haben. Glücklicherweise wurden nicht nur gute Menschen von ihren Erwartungen zu Fehlinterpretationen verlockt.
Mitch zog sein Hosenbein hoch und holte den Revolver heraus. Das Holster schnallte er ab.
Als er die Waffe untersucht hatte, war ihm kein Sicherungshebel aufgefallen. Auch in Filmen hatten nur bestimmte Pistolenmodelle solche Hebel, Revolver hingegen nie.
Falls er die nächsten beiden Tage überlebte und Holly lebendig wiederbekam, dann würde er sich nie wieder in eine Lage bringen, in der er sich auf das Realitätskonzept von Hollywood verlassen musste.
Beim Öffnen der Revolvertrommel hatte er nicht, wie erwartet, sechs Patronen vorgefunden, sondern nur fünf, weil es sich um einen Fünfschüsser handelte.
Das hieß, mit fünf Kugeln musste er zwei Treffer erzielen. Direkte Treffer, nicht bloß Streifschüsse.
Vielleicht kam nur einer der beiden Vollstrecker nach hinten, um den Kofferraum zu öffnen. Es würde besser sein, wenn beide kamen, weil er sie dann gemeinsam überraschen konnte.
Vielleicht hatten beide ihre Waffe in der Hand – oder nur einer. Wenn Letzteres der Fall war, dann musste Mitch rasch genug sein, um zuerst den Bewaffneten aufs Korn zu nehmen.
Als friedfertiger Mensch, der etwas Gewaltsames plante, wurde er von Gedanken gequält, die nicht gerade hilfreich waren: Als Teenager hat der Typ mit den Narben bestimmt furchtbar gelitten, weil eine derart üble Akne sein Gesicht in eine Mondlandschaft verwandelt hat.
Bestenfalls war ein solches Mitgefühl mit dem Teufel eine Art Masochismus, schlimmstenfalls stellte es einen Todeswunsch dar.
Während Mitch im Rhythmus der rollenden Räder und des dröhnenden Motors vor sich hin schaukelte, versuchte er sich alle Gewalttätigkeiten vorzustellen, die nach dem Öffnen des Kofferraumdeckels geschehen konnten. Es dauerte nicht lange, da versuchte er, genau das nicht zu tun.
Den Leuchtziffern seiner Armbanduhr zufolge waren sie bereits über eine halbe Stunde gefahren, als der Wagen langsamer wurde und vom Asphalt auf eine ungepflasterte Straße einbog. Steinchen prasselten ans Fahrgestell und ans Bodenblech.
Mitch roch Staub und leckte sich den alkalischen Geschmack von den Lippen. Die Luft wurde jedoch nicht so schlecht, dass sie ihn zum Würgen brachte.
Auf dem unebenen Untergrund rumpelte der Wagen zwölf Minuten langsam dahin, bevor er langsam zum Stehen kann. Der Motor lief noch eine halbe Minute weiter, dann schaltete der Fahrer ihn aus.
Nach einer Dreiviertelstunde Dröhnen und Trommeln wirkte die Stille, als wäre Mitch plötzlich taub geworden.
Eine Tür ging auf, dann die andere.
Sie kamen.
Mitch drehte sich in der Mitte des Kofferraums auf den Rücken, sodass er zum hinteren Ende des Fahrzeugs blickte, zog die Beine an und stemmte sie links und rechts in die Ecken. Aufrecht sitzen konnte er erst, wenn der Deckel aufging. Er spannte jedoch schon einmal die Bauchmuskeln an, um Kopf und Schultern vom Boden zu heben.
Weil er Handschellen
Weitere Kostenlose Bücher