Todeszeit
allerhand Gedanken um Hollys Bequemlichkeit gemacht. Sie haben ihr eine Luftmatratze als Bett gegeben, außerdem eine Sechserpackung Mineralwasser und eine Bettpfanne. Vor einer Weile hat sie sogar eine halbe Peperonipizza bekommen.
Das soll nicht heißen, dass es nette Leute wären. Es sind eindeutig keine netten Leute.
Als Mitch einen Schrei hören sollte, haben sie Holly geschlagen. Um ihr den für Anson gedachten Schrei zu entlocken, haben sie ihr so plötzlich und brutal an den Haaren gerissen, dass sie dachte, ihre Kopfhaut würde sich vom Schädel lösen.
Obwohl dies also keine Leute sind, denen man beim Kirchgang begegnet, sind sie nicht einfach grausam, weil es ihnen Spaß macht. Bösartig sind sie schon, aber sie verfolgen sozusagen ein geschäftliches Ziel, auf das sie sich konzentrieren.
Einer von ihnen ist allerdings nicht nur bösartig, sondern auch verrückt.
Der macht Holly Sorgen.
Die Bande hat sie zwar nicht in ihren Plan eingeweiht, aber Holly hat den Eindruck, dass man sie festhält, um Mitch dazu zu zwingen, Druck auf Anson auszuüben.
Weshalb die Bande meint, Anson könnte ein Vermögen lockermachen, um Mitch zuliebe das Lösegeld zu bezahlen, weiß Holly nicht, aber es wundert sie nicht, dass ausgerechnet er im Zentrum dieses Komplotts steht. Sie hat schon lange das Gefühl, dass Anson nicht der ist, als der er sich ausgibt.
Ab und zu hat sie ihn dabei ertappt, dass er sie auf eine Weise angestarrt hat, wie es der liebevolle Bruder ihres Mannes eigentlich nicht tun sollte. Wenn er merkt, dass man ihn beobachtet, verschwinden die Raubgier in seinem Blick und der hungrige Ausdruck in seinem Gesicht so schlagartig hinter seinem üblichen Charme, dass man meinen könnte, sich dieses merkwürdige Verhalten nur eingebildet zu haben.
Wenn Anson lacht, kommt Holly seine Fröhlichkeit manchmal aufgesetzt vor. Mit dieser Wahrnehmung steht sie scheinbar allein. Alle anderen finden Ansons Lachen ansteckend.
Was sie über Anson denkt, hat sie nie jemandem verraten. Bis Mitch sie kennengelernt hat, hatte er nur seine Schwestern – die inzwischen in verschiedene Windrichtungen geflohen sind –, seinen Bruder und seine Leidenschaft, die fruchtbare Erde zu bearbeiten und Pflanzen zum Wachsen zu bringen. Holly hat immer gehofft, sein Leben zu bereichern, statt ihm irgendetwas wegzunehmen.
Sie kann Mitchs starken Händen ihr Leben anvertrauen und sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken. In gewissem Sinne ist es das, worum es bei einer Ehe – einer
guten Ehe – geht: um totales Vertrauen mit dem Herzen, dem Verstand, dem ganzen Leben.
Da ihr Schicksal nun jedoch auch in Ansons Händen liegt, kann sie vielleicht überhaupt nicht einschlafen; und sollte es ihr doch gelingen, dann wird sie Albträume haben.
Sie versucht, den Nagel zu lockern, bis ihre Finger schmerzen. Dann verwendet sie zwei andere Finger.
Während die dunklen, stillen Minuten vergehen, versucht sie, nicht darüber nachzubrüten, wie ein Tag, der so freudig begonnen hat, in derart verzweifelten Umständen versinken kann. Nachdem Mitch zur Arbeit gefahren ist und bevor die maskierten Männer in ihre Küche gestürmt sind, hat sie das Stäbchen verwendet, das sie schon am Tag vorher gekauft, aber aus Nervosität noch nicht hergenommen hat. Ihre Periode ist schon seit neun Tagen überfällig, und laut dem Ergebnis des Tests wird sie ein Baby bekommen.
Seit einem Jahr hoffen sie und Mitch schon darauf. Und jetzt ist es ausgerechnet an diesem Tag eingetreten.
Die Entführer haben keine Ahnung, dass ihrer Gnade und Ungnade gleich zwei Leben ausgeliefert sind. Auch Mitch weiß nicht, dass nicht nur seine Frau, sondern auch sein Kind auf seine Schläue und seinen Mut angewiesen sind, aber Holly weiß es. Dieses Wissen ist gleichermaßen eine Freude und eine Qual.
Holly stellt sich ein dreijähriges Kind vor – manchmal ein Mädchen, manchmal einen Jungen –, das lachend im Garten ihres Hauses spielt. Das stellt sie sich bewusst lebhafter vor als alles, was sie sich bisher vorgestellt hat, in der Hoffnung, es dadurch geschehen zu machen.
Sie hat sich vorgenommen, stark zu sein und nicht zu weinen. Deshalb schluchzt sie nicht und stört auch sonst nicht die Stille, die sie umgibt, aber manchmal steigt ihr doch das Wasser in die Augen.
Um die Tränen abzustellen, arbeitet sie in der tiefen Dunkelheit noch aggressiver an dem Nagel, diesem verdammten, störrischen Nagel.
Nachdem es lange völlig still gewesen ist, hört sie
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