Todeszeit
Chance. Er musste tun, was er nicht tun wollte, denn egal, ob dieser Kerl mausetot oder nur bewusstlos war, er hatte eine Waffe bei sich. Mitch brauchte eine Waffe, und zwar rasch.
Er hatte zwar gerade eben herausgefunden, dass er zumindest in Notwehr zu Gewalt fähig war, aber auf das Tempo, mit dem sich die Dinge seit dem ersten Schuss entwickelten, war er genauso wenig vorbereitet gewesen wie darauf, dass nun in Sekundenschnelle Entscheidungen zu treffen waren und jederzeit plötzlich neue Herausforderungen auf ihn zukommen konnten.
Auf der anderen Straßenseite bot allerhand Gestrüpp einen gewissen Schutz. Auch hinter ein paar niedrigen, verwitterten Felsen konnte man sich verbergen.
Falls die leichte Brise, die an der Küste geweht hatte, so weit landeinwärts vorgedrungen war, so hatte die Wüste sie bis zum letzten Zug geschluckt. Wenn sich die Sträucher bewegten, so war das also sicher nicht die Hand der Natur, sondern der Feind.
Soweit Mitch es im Dunkeln beurteilen konnte, war alles still.
Wohl wissend, dass seine eigenen Bewegungen ihn zum Ziel machen konnten, schlängelte Mitch sich auf dem Bauch zu dem hinter dem Wagen liegenden Körper. Die Handschellen waren dabei nicht gerade förderlich.
Die offenen, starren Augen des Toten glänzten im Mondlicht.
Neben der Leiche lag ein silbern funkelnder Gegenstand, der eine vertraute Form hatte. Dankbar griff Mitch danach und wollte sich schon wieder wegschlängeln, als ihm klar wurde, dass er den nutzlosen Revolver gefunden hatte.
Vorsichtig klopfte er den Toten ab, wobei ihn das leise Klirren der Kette zwischen den Handschellen fast zur Verzweiflung brachte. Noch schlimmer war es jedoch, als er plötzlich etwas Feuchtes unter seinen Fingern spürte. Schaudernd wischte er sich an den Kleidern des Toten die Hand ab.
Er war schon zu dem Schluss gekommen, dass der Kerl ohne Waffe aus dem Wagen gestiegen war, als er sah, dass unter der Leiche der karierte Griff einer Pistole hervorschaute. Sofort zog er sie heraus.
Ein Schuss krachte, und der Tote zuckte. Offenbar hatte er den für Mitch gedachten Schuss abbekommen.
Während Mitch hektisch auf den Wagen zurobbte, hörte er erst einen zweiten Schuss und dann das flüsternde Pfeifen der Kugel, die ihn erneut verfehlte. Einen Sekundenbruchteil später prallte sie vom Blech ab. Dann kam ein weiteres, näheres Flüstern, aber da es kaum möglich war, von einer Kugel zweimal verfehlt zu werden, hatte er es sich vielleicht nur vorgestellt und nach dem insektenhaften Kreischen des Querschlägers gar nichts mehr gehört.
Als er den Wagen zwischen sich und den Schützen gebracht hatte, fühlte er sich erst einmal sicherer, aber schon im nächsten Augenblick löste dieser Eindruck sich völlig in Luft auf.
Der Mann irgendwo im Dunkel konnte entweder vorne oder hinten um den Wagen herumkommen. Das hieß, er hatte den Vorteil, die Initiative ergreifen zu können.
Mitch hingegen war gezwungen, ständig beide Richtungen im Blick zu behalten. Eine unmögliche Aufgabe.
Womöglich war sein Gegner schon unterwegs.
Kurz entschlossen drückte Mitch sich vom Boden hoch. Gebückt rannte er von der Straße und durch die wilde Mesquitehecke, die verräterisch raschelte und gleichzeitig flüsterte, als wollte sie ihm warnend zu verstehen geben, er solle leise sein.
Nach der Hecke fiel der Boden ab, was gut war. Wäre es nach oben gegangen, dann hätte Mitchs Rücken ein leichtes Ziel abgegeben, sobald sein Gegner um den Chrysler kam.
Ebenso erfreulich war, dass der Boden zwar sandig, aber fest war, statt aus Schiefer oder losen Steinen zu bestehen. Deshalb machte Mitch beim Laufen keinen Lärm. Der Mond wies ihm den Weg, sodass er im Zickzack um die Sträucher herumlaufen konnte und nicht gezwungen war, sich hindurchzuzwängen. Dennoch war es nicht gerade einfach, mit gefesselten Händen das Gleichgewicht zu behalten.
Am Ende eines etwa zehn Meter langen Hangs wandte er sich nach rechts. Der Position des Mondes nach zu urteilen, bewegte er sich damit fast direkt nach Westen.
Etwas wie eine Grille zirpte. Etwas weniger Vertrautes klickte und schrillte.
Als Mitch sich umblickte, fiel ihm eine Kolonie aus Pampasgrasbüscheln ins Auge. Die hohen, fedrigen Rispen leuchteten weiß im Mondlicht.
Aus den runden Büscheln sprossen schmale, scharfkantige, spitze Grashalme, etwa ein bis eineinhalb Meter lang. Sie reichten Mitch bis zur Hüfte. Waren solche Halme trocken, dann konnten sie kratzen, wie Nadeln stechen, ja sogar
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