Todeszeit
einen deutlichen Schlag, der einen hohlen, metallischen Klang hat. Einen dumpfen Knall.
Wachsam und argwöhnisch wartet sie, doch das Geräusch wiederholt sich nicht. Es folgt auch kein anderes.
Das Geräusch ist ihr qualvoll vertraut. Es gehört zu einem ganz banalen Vorgang – und doch sagt ihr der Instinkt, dass von diesem dumpfen Knall ihr Schicksal abhängt.
Obwohl sie das Geräusch in der Erinnerung noch einmal abspielen kann, ist sie anfangs nicht in der Lage, es mit einem Vorgang zu verbinden.
Nach einer Weile vermutet Holly, das Geräusch sei nicht real, sondern imaginär gewesen. Genauer gesagt, hat sie den Eindruck, dass es in ihrem Kopf stattgefunden hat, nicht jenseits der Wände des Zimmers. Das ist eine merkwürdige Vorstellung, die jedoch anhält.
Dann erkennt sie den Ursprung des Geräuschs. Sie hat es unzählige Male gehört, und obwohl sie es eigentlich nicht mit irgendetwas Unheilvollem in Verbindung bringt, erschrickt sie. Der dumpfe Knall war das Geräusch eines zuschlagenden Kofferraumdeckels.
Egal, ob man sich so etwas vorstellt oder es tatsächlich hört, es sollte nicht dazu führen, dass einem die Kälte bis ins Mark kriecht. Holly sitzt ganz aufrecht da; den Nagel hat sie momentan völlig vergessen. Erst atmet sie gar nicht, dann nur flach und leise.
ZWEITER TEIL
Würdest du aus Liebe sterben? Würdest du töten?
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Wenn man sich Ende der Vierzigerjahre für einen Wagen wie den Chrysler Windsor entschied, dann wusste man, dass der einen starken Motor hatte, denn er hatte auch einen unvergleichlich starken Sound. Zeitgenössische Werbestrategen hätten ihn eventuell mit einem Bullen verglichen, mit dessen kraftvoll pochendem Herzen, dem tiefen, wilden Schnauben und dem schweren Stampfen der Hufe.
Der Krieg war vorbei, man hatte überlebt, große Teile Europas lagen in Trümmern, aber die amerikanische Heimat war unversehrt, und man wollte sich lebendig fühlen. Da ging es nicht um Dinge wie einen schallgedämpften Motorraum oder andere Mätzchen zur Geräuschminderung. Man wollte Kraft, eine gute Straßenlage und Geschwindigkeit.
Der Kofferraum des Oldtimers vibrierte vom Klopfen und Grollen des Motors, das durch die Antriebswelle, die Karosserie und den Rahmen übertragen wurde. Von unten her kam ein unregelmäßiges Trommeln, das in direkter Beziehung zur Umdrehungszahl der Räder auf dem Asphalt stand.
Mitch roch leichte Abgasdämpfe, die vielleicht von einem Loch im Auspufftopf stammten, aber eine Kohlenmonoxidvergiftung drohte ihm offenkundig nicht. Stärker waren der Gummigeruch der Matte, auf der er lag, und die Säure seines eigenen Angstschweißes.
Hier war es so dunkel wie damals im Lernzimmer seines Elternhauses, wenngleich von einer Reizabschirmung nicht
die Rede sein konnte. Dennoch spürte er, wie ihm Meile für Meile eine der wichtigsten Lektionen seines Lebens eingetrichtert wurde.
Sein Vater behauptete, es gebe kein Tao, kein Naturgesetz, das wir begreifen sollen. Nach dieser materialistischen Weltsicht sollte man sich nicht nach einem bestimmten Verhaltenskodex richten, sondern nur im Sinne des Eigeninteresses handeln.
Rationalität sei immer im eigenen Interesse, meinte Daniel. Folglich sei jede rationale Handlung richtig, gut und bewundernswert.
Das Böse existierte in dieser Philosophie nicht. Diebstahl, Vergewaltigung, die Ermordung Unschuldiger – solche und andere Verbrechen seien lediglich irrational , weil der Täter damit seine Freiheit aufs Spiel setze.
Der jeweilige Grad an Irrationalität hänge mit der Chance des Täters zusammen, der Bestrafung zu entgehen. Deshalb seien Verbrechen, die Erfolg und damit ausschließlich positive Auswirkungen für den Täter hätten, prinzipiell richtig und bewundernswert, wenn auch nicht gut für die Gesellschaft.
Ob Diebe, Vergewaltiger, Mörder und ihresgleichen von Therapien und Rehabilitationsmaßnahmen profitierten oder nicht, war laut Daniel in diesem Zusammenhang nicht wichtig. In jedem Falle seien diese Personen nicht als im eigentlichen Sinne böse zu bezeichnen; sie seien nur krankhafte – oder unbelehrbare – Irrationalisten, das und nichts weiter.
Bisher hatte Mitch gedacht, diese Lehren seien nicht in ihn eingedrungen. Er hatte gemeint, das Feuer von Daniel Raffertys Erziehung habe ihn nicht einmal versengt. Aber bei einem Feuer entstanden Dämpfe, und er war so lange vom Fanatismus seines Vaters eingenebelt worden, dass sich etwas davon in ihm festgesetzt hatte.
Er konnte sehen, doch er
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