Toechter der Dunkelheit
Hexen aufgenommen werden. Ihr Körper ist von Magiegeflechten übersät wie von Krebsgeschwüren. Es würde sie zu einem qualvollen Tod verurteilen und unabsehbares Unheil für jeden in ihrer Nähe bedeuten, wenn wir sie leben lassen. Deshalb bestimme ich, dieses Kind zu töten, zu seinem eigenen und unser aller Wohl. Es tut mir leid, Shora.“
Stumm wollte sie Shora um Verzeihung bitten, doch ihre Freundin starrte unentwegt auf das Kind nieder. Als sie endlich aufblickte, lächelte sie sanft.
„Du irrst dich, Kythara. Ich weiß nicht, warum meine Tochter all diese Geflechte in sich trägt, aber es ist ein Irrtum, dass du sie töten musst. Inani ist meine Tochter. Sie ist die Klinge der Göttin, die ich zu schmieden habe.“
Mit diesen Worten sprang Shora vor, geschmeidig wie eine Wildkatze, riss das Kind an sich und rannte fort in die Nacht. Bevor irgendjemand reagieren konnte, war sie bereits durch den Nebel verschwunden.
Sechs Tage später kehrte sie zurück und legte das Mädchen erneut in Kytharas Arme.
„Prüfe sie! Prüfe meine Tochter!“, verlangte Shora. Sie war so bleich wie der Tod, ausgezehrt bis auf die Knochen, als hätte sie monatelang gefastet. Doch in ihren Augen brannte ein wildes Feuer der Entschlossenheit, nah am Wahnsinn.
Schweren Herzens nahm Kythara das winzige Bündel an sich. Sie hätte schreien können, als sie erkannte, was Shora getan hatte: Mit Hilfe von Magie war ein Geflecht nach dem anderen zerstört worden, die filigranen Energiebahnen zerrissen. Nur das etwa walnussgroße Urgeflecht war unangetastet und flimmerte leicht unter Kytharas suchendem Blick. Es musste Shora nahezu alle Kraft gekostet haben, die sie besaß. Es war zweifelhaft, ob sie sich jemals wieder vollständig davon erholen und zu alter Macht zurückkehren würde. Dieses Kind allerdings …
Es war den Legenden zufolge schon früher versucht worden, die überzähligen Magiegeflechte zu zerstören. In allen Fällen waren die Kinder jung gestorben oder dem Wahnsinn anheimgefallen, kein einziges Mädchen hatte sich zu einer normalen, gesunden Hexe entwickelt. Einige wenige sollten angeblich alle Kräfte verloren haben und als mehr oder weniger behinderte, schwachsinnige Frauen unter den gewöhnlichen Menschen dahinvegetiert sein.
Zögernd suchte Kythara in dem Geist des Mädchens nach einem Zeichen, nach irgendetwas, das rechtfertigte, sie anzunehmen. Sie wusste, würde sie das Kind erneut zurückweisen, wäre das auch für Shora ein Todesurteil.
Das schlafende Bewusstsein des Kindes schien völlig leer. Lediglich einige Erinnerungen an Schmerz, Kälte und Angst waren dort zu finden, wo sich bereits reiche Eindrücke von Licht und Geborgenheit hätten ansammeln müssen. Es wäre gnädiger, diesem Elend ein Ende zu bereiten. Doch gerade, als Kythara aufgeben wollte, erwachte das Mädchen. Helle Augen richteten sich sie, und tief verborgen unter all dem Schmerz regte sich eine weitere Erinnerung. Inani erinnerte sich. Sie erinnerte sich, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. Was auch immer sie sein mochte, ihr Geist war gesund.
Tief erschüttert legte Kythara das leise wimmernde Mädchen in Shoras Arme zurück.
„Nimm deine Tochter, ihr Name sei Inani. Sie ist aufgenommen in die Gemeinschaft der Hexen, bis sich an ihrem zwölften Geburtstag entscheidet, ob sie im Licht oder in der Dunkelheit leben wird.“ Obwohl sie die rituellen Worte kaum hörbar wisperte, wussten alle umstehenden Hexen, was hier in diesem Moment geschah. Niemand protestierte, doch es war leicht zu sehen, dass niemand mit ihrer Handlung einverstanden war.
„Für deine Eigenmächtigkeit, sie als deine Tochter zu erwählen, verurteile ich dich zu zwanzig Stockhieben. Du wirst die Strafe in einer Woche empfangen, wenn du dich von den Folgen deiner Taten erholt hast. Danach darfst du einen Ort in Enra wählen, an dem du deine Tochter aufziehen willst.“
Kythara selbst führte die Strafe aus, sie schonte ihre Freundin nicht. Sie durfte es nicht, zu viel Ansehen hatte sie durch ihre Entscheidung verloren.
Inani löste sich schweigend aus Kytharas Armen. Sie zitterte, als wäre sie fieberkrank.
„Alle haben damit gerechnet, dass du jung sterben würdest, oder an schweren Gebrechen erkrankst. Immer wieder haben wir euch beide in eurem Dorf besucht, um nach dir zu schauen … Dass du körperlich und geistig stark und gesund zu uns zurückgekehrt bist, haben dir einige bis heute nicht verziehen. Es gibt genug Hexen, die insgeheim
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