Die Entdeckung des Higgs-Teilchens: Oder wie das Universum seine Masse bekam (German Edition)
Zwei Tage im Sommer 2012 – eine neue Welt
Harald Lesch
Am 3. Juli 2012 gab die Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität in München bekannt, dass man durch einen großen Zufall in den eigenen Beständen auf eine Globussegmentkarte des berühmten Kartografen Martin Waldseemüller gestoßen sei. Zwei Bibliothekarinnen hatten im Frühjahr zwischen alten Geografiefolianten die älteste Weltdarstellung gefunden, die einen damals neuen Kontinent namens Amerika zeigt. Waldseemüller hatte ihm seinerzeit den Namen gegeben und damit eigenmächtig und gegen die Überzeugung des Entdeckers dieser neuen Landmasse gehandelt. Christoph Kolumbus hielt das Land und die Inseln für Teile von Asien und Indien. Die Karte aus dem Jahr 1507 ist die vollständigste Darstellung der damals bekannten Welt – und den Menschen des 16. Jahrhunderts offenbarte sie eine neue Welt.
In den nachfolgenden Jahrzehnten teilten die europäischen Mächte Portugal, Spanien, Frankreich und Großbritannien in ihren Eroberungszügen die Welt neu auf, und sie waren sich – wie übrigens alle Menschen des 16. Jahrhunderts – sicher, mit ihr im Zentrum des Kosmos zu stehen. Da betrat im Jahr 1543 ein Domherr aus Frauenburg mit Namen Kopernikus die Bühne und wagte es, gegen diese anscheinend gottgegebene Tatsache Einspruch zu erheben. Er stellte eine kühne Hypothese auf: Die Erde steht nicht im Mittelpunkt! Sie umkreist wie alle anderen Planeten die Sonne. Damit widersprach er dem blanken Augenschein, nach dem man doch täglich beobachten kann, wie sich alles um die Erde dreht. Aber der Astronom behauptete, dass es übergeordnete, unseren direkten Sinnen verborgene abstrakte Prinzipien gebe, die uns viel mehr über die wahre Struktur der Welt verrieten als unsere fünf Sinne.
Waldseemüller und Kopernikus begründeten eine wahrhaft epochale Neuorientierung der Menschheit. Ihre Theorien bilden einen Höhepunkt in einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung, in der am 4. Juli 2012 ein weiterer Triumph menschlichen Forschergeistes zu verzeichnen war.
Der 4. Juli 2012 war ein Mittwoch. Die Zeitungen in Deutschland titelten, dass fast eine viertel Million Menschen hierzulande in der Friseurbranche arbeiteten, wobei vielen der Lohn nicht einmal zum Leben reiche und sie durch staatliche Leistungen unterstützt werden müssten. An diesem Tag schaffte die Bundesregierung die Schatzbriefe ab, und Matthias Sammer erhielt für seinen ersten Tag beim FC Bayern Vorschusslorbeeren von der Bild -Zeitung: »Sammer greift durch«. Im Übrigen war es der Nationalfeiertag des Landes, dem Martin Waldseemüller 1507 den Namen gegeben hatte: Jedes Jahr am 4. Juli gedenken die Vereinigten Staaten von Amerika der Verabschiedung ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1776 und feiern ihren Gründungstag.
So weit, so gut. Aber an diesem scheinbar so gewöhnlichen 4. Juli ging es um nichts Geringeres als die Entdeckung einer neuen Welt, einer Welt weit jenseits unserer direkten Anschauung und unseres Verständnisses. Am 4. Juli 2012 wurde, zuerst noch unter Vorbehalt, etwas bekannt gegeben, das zu den tiefsten Erkenntnissen über die Struktur der Materie des ganzen Universums gehört. In einer gigantischen unterirdischen Anlage, teils in der Schweiz und teils in Frankreich, hatte man sich seit Monaten auf die Suche nach etwas begeben, das rund fünfzig Jahre zuvor von Theoretischen Physikern mittels hochabstrakter mathematischer Modelle vorhergesagt worden war. Und am Ende jenes Tages im Juli 2012 hatte sich wieder einmal eine zentrale Forderung der seriösen Wissenschaft bewährt, deren nüchtern-trockene Formulierung so gar nichts über ihre Tragweite für die Erforschung der Welt verrät: »Jede empirische Hypothese muss an der Erfahrung scheitern können.«
Erfahrungen machen Wissenschaftler mittels Experiment und Beobachtung. Die Hypothese entspricht der mathematischen Theorie, und die Möglichkeit des Scheiterns steckt in der Vorhersage, die sich aus der Theorie ergibt und im Experiment überprüft wird. Stellt sich der vorhergesagte Effekt ein, so ist die Hypothese, ist die Theorie nicht falsch. Wenn hingegen das prognostizierte Phänomen nicht eintritt, muss die Hypothese begraben werden. Dazwischen kann ein langer Weg liegen!Doch eins nach dem anderen.
Ich war an jenem Morgen noch auf dem Weg zur Münchener Universitätssternwarte, als rund 600 Kilometer entfernt im CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Meyrin , Kanton Genf
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