Toechter der Dunkelheit
verdächtig, dass Inani, ihre Mutter und deren Schwester nicht alle Gepflogenheiten der Adligen kannten und beachteten. Ah, wie schnell die folgenden Jahre verflossen waren ... Sie hatte neben ihrer normalen Hexenausbildung, die oft genug nachts verfolgt wurde, viel Zeit mit Tanzen, Singen, Musizieren, Handarbeiten und Gedichtwettbewerben verbracht. Sie musste lernen, welche Bedeutungen winzige Feinheiten wie die Position von Haarkämmen, die Farbe der Ohrringe oder die Neigung des Kopfes als Reaktion auf eine Frage haben konnten. Es war unendlich vergnüglich gewesen, all die feinen Intrigen zu beobachten und die Regeln zu verstehen. Später hatte sie begonnen, selbst mitzuspielen. Ein Lächeln zum falschen Zeitpunkt, und eine hochrangige Mätresse konnte des Hofes verwiesen werden, das Kratzen mit dem Fingernagel an der richtigen Tür, und ein unliebsamer Graf fiel für alle Zeit in Ungnade. Das Bett mit dem einen Fürsten zu teilen, den anderen aber abzuweisen, konnte für eine Dame das Todesurteil bedeuten, doch wenn sie es geschickt anstellte, schaffte sie auf diesem Weg einen besonders raschen Aufstieg in der engen Hierarchie.
Wann immer sie sich fortschleichen konnte, eilte sie durch den Nebel zu Niyams Kräuterladen. Der Loy lehrte sie geduldig die Sprache und Schrift der Nola wie auch seines eigenen Volkes. Dazu verfeinerte er ihr Wissen über Heilkräuter, Gifte, die Wirkungsweisen von Edelsteinen sowie das Erstellen von Tränken, Salben, Pulvern und Lotionen. Im Gegenzug half sie ihm, in den Aufzeichnungen des Sonnentempels nach Hinweisen auf einen wertvollen Stein zu
suchen, den Niyam in Roen Orm vermutete. Die Gefahr, nachts im Tempel des Ti herumzuschleichen, direkt zu Füßen ihres erklärten Feindes, war genau nach ihrem Geschmack gewesen! – Nicht, dass Shora oder Kythara davon auch nur geahnt hätten, sonst wäre sie vermutlich sofort aus Roen Orm fortgezerrt worden.
Inani lachte leise. Garnith‘ Verfall zu beobachten war das Beste von allem gewesen. Alle paar Monate schickte sie ihm neue Beweise ihres Hasses, und mit jedem Mal wurde er ängstlicher, bis sein Verfolgungswahn ihn aufzufressen begann. Eine herrliche Zeit! Immer wieder durfte sie nach Nasharint wandern, Thamars Exil im Norden des Kontinents, und Waffen, Vorräte aller Art oder Verbündete zu ihm bringen. Corin war mehr oder weniger glücklich hier, die Männer ignorierten sie auf respektvolle Art, die wenigen Hexen gingen geduldig mit ihr um. Diese Ausflüge waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie mit ihrer Leopardin längere Zeit zusammen sein konnte, was sie zutiefst bedauerte. Immerhin, die Kyphra hatte sie mit in die ewige Stadt nehmen können, die Schlange lebte bei Niyam. Mit sechzehn durfte sie ihre Reifeprüfung ablegen, was sehr jung war, doch niemand hatte leugnen können, das sie eine voll ausgebildete Hexe war. Mit der einzigen Einschränkung, dass man ihr nach wie vor Unbeherrschtheit vorwarf, weil sie immer wieder instinktiv das Raubtier in ihr erwachen oder sogar die Vorherrschaft übernehmen ließ, wenn ihr Zorn sich regte. Sie lächelte bitter. Ja, der Zorn des Panthers, der emotionslose tödliche Wille der Schlange ... Alle hatten sich gefürchtet, wenn sie sich diesen Instinkten überließ. Aber sie hatte gelernt, sich zu beherrschen. Es mit Horror und Schmerz gelernt.
Wie alles im Leben, nichts dauerte ewig. Und so endete auch die aufregende Zeit des Lernens, Beobachtens und friedvollen Spiels.
Inanis wirbelnde Gedanken kamen zur Ruhe, und sie erinnerte sich ...
Währenddessen eilte Loéys unermüdlich voran. Sie musste Inani erreichen, bevor es zu spät war. Es gab viel zu tun! Das Leben einer Hexe war erfüllt von Pflichten, und sie wollte nicht länger müßig sein.
Ende Teil 1
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