Toechter der Dunkelheit
Nachthimmels pulsierte die sterbende Sonne. Fern, weit fort von Enra wie auch von Anevy brannte der große Himmelskörper aus. Für einen Moment schien es, als würde die Sonne still stehen, unfähig, sich weiter zu drehen. Dann explodierte sie. Weinend vor Glück streckte Maondny die Hände zum Himmel, erschüttert von der gewaltsamen Schönheit des Lichts. Feuer, Gestein, Trümmer flogen durch die unendlichen Weiten, doch sie bargen keine Gefahr für Anevy.
Es waren die unsichtbaren Energien, die wellenförmig in alle Richtungen geschleudert wurden. Seufzend bewunderte Maondny den roten Gasnebel, der dort geboren wurde, wo die Sonne gestorben war. Gab es etwas Vollkommeneres als das Werk des Schöpfers?
Endlich riss sie sich von diesem Anblick los. Die vernichtenden Kräfte würden jeden Moment in Anevy eintreffen. P’Maondny sah zum Weltenstrudel, der Enra mit vielen anderen Welten verband, entstanden durch Pyas Macht. Sie sah den schmalen Fluss, der von ihrem Vater Taón erschaffen worden war, und Anevy mit dem Strudel verknüpft hatte. Der Weltenstrudel selbst war zu mächtig, der Todeshauch der Sonne würde ihn nicht weiter gefährden. Der Seitenarm zu Anevy allerdings ... Da fühlte sie bereits die schwere Erschütterung, und die Verbindung zwischen den beiden Welten zerriss. Niemand außer ihr wusste davon, das Leben war auf keiner Welt in Gefahr. In dieser Nacht würde man überall auf Enra helle Lichtblitze sehen können. Mehr nicht.
Doch von nun an würden sich diese beiden Welten nicht mehr im Gleichtakt drehen. Mehrere Jahre würden auf Enra vergehen, während von hier aus in Anevy die Zeit still zu stehen schien.
„Es ist geschehen, Mutter“, sagte sie zu Fin Marla.
„Jetzt schon? Bist du sicher, ich habe keine Veränderung gespürt“, erwiderte ihre Mutter unsicher.
„Sieh hin! Alles ist so, wie ich es berechnet habe. In frühestens zehn Jahren, für uns gesehen, ist der Energiesturm soweit abgeflaut, dass ein neuer magischer Strudel erschaffen werden kann.“
Sie brach die Verbindung zu ihrer Mutter rasch ab, bevor diese Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen. Fragen, die Maondny einfach nicht beantworten wollte. Sie hatte sich nun einmal eingemischt. Alles verändert. Es lag an ihr, das Chaos wieder ins Reine zu bringen. Eine Lebensaufgabe, ein vielschrittiger Tanz im Takt der Sphärenmusik. Sie würde es genießen. Und leiden.
Lächelnd betrachtete sie die Herrin der Famár. Für sie war es leicht, durch den Zeitenfluss alles zu sehen, was sie wollte, uneingeschränkt von den Gesetzen des Lebens. Oh, Chyvile hasste sie bereits jetzt! Maondny beschloss, noch eine ganze Weile zu warten, bevor sie der Famár beichtete, was sie ihr bislang vorenthalten hatte. Zumindest von Enra aus besehen würde es eine längere Weile sein.
25.
„Das erste Blut, im Kampf genommen, zeichnet dich als Erwachsenen. Die erste Rache, kalt genossen, erhebt dich zum Krieger.“
Sinnspruch der Nola
Inani und Kythara lagen im Schatten des größten Bauwerkes der Welt auf der Lauer. Kein Gebäude durfte höher sein als der Ti-Tempel von Roen Orm, er ragte auf der höchsten Klippe über der gesamten Stadt. Sein goldenes, frei schwebend erbautes Kuppeldach galt als Wunderwerk, es war von allen Seiten weithin sichtbar. Egal, aus welcher Himmelsrichtung man sich der Stadt näherte, ob zu Land oder über Wasser, der Sonnentempel war das Erste, was ein jeder Reisender zu Gesicht bekam. Tagsüber wachte der feurige Gott selbst über sein Heiligtum, nachts wurde es von magischen Lichtsäulen erhellt. Unzählige Lieder und Gedichte waren allein dieser Kuppel gewidmet, die schon so viele Seefahrer sicher in den Hafen von Roen Orm geleitet hatte, die den erschöpften Wanderern Mut spendete, den Zweifelnden Hoffnung gab. Eine Statue des Gottes war in das Mauerwerk eingemeißelt, gewiss fünfzig Schritt hoch, direkt neben dem gewaltigen Eingangsportal. Auch innen gab es unzählige Kunstwerke zu bestaunen – Mosaike, Wandmalereien, Statuen von bedeutenden Kriegern, Königen und Helden. In den Kellergewölben lagerte die gewaltige Chronik der Stadtgeschichte, sorgsam bewahrt und behütet von den Sonnenpriestern. Durch einen Innenhof getrennt schlossen sich mehrere hohe Gebäude an den Tempel an, Wohn- und Arbeitshäuser, Lagerräume und Ställe der Priesterschaft. Das höchste von ihnen wurde von vier Türmen geschmückt und war prachtvoller gestaltet als der Königspalast, der sich unterhalb des
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