Töchter der Sechs (German Edition)
des Liedes der Inschrift des Heiligen Würfels entsprachen. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von Verstehen. Auch war ihr Vortrag von einer Ausdruckskraft und Lebendigkeit, die nur ein Sänger hervorbringen konnte, der den Sinn des Liedes verstand. Als der Gesang endete, war es eine Weile still im Tempel. Auch Mawen wagte nicht, etwas zu sagen, obgleich er unzählige Fragen hatte. Endlich brach Zada das Schweigen: „Das Lied, es erzählt eine Legende meiner Heimat.“
„Heißt das, Ihr kommt nicht aus Cytria?“, fragte Mawen.
„Nein, mein Heimatland heißt Helwa.“
„Aber wie ist das möglich?“, wollte Ruwen wissen.
„Es waren wohl die Götter, die mein Boot vor mehr als zwölf Jahren an Eure Küste gespült haben. Wie genau dies geschehen ist und wie lang meine Fahrt übers Meer war, vermag ich nicht zu sagen. Daran habe ich keine Erinnerung. Aber viele andere Dinge sind aus dem Nebel, der meine Kindheitserinnerungen umgibt, aufgetaucht. Ich erinnere mich an meine Eltern, mein Heim, meine Muttersprache.“
„Bedeutet das, Ihr könnt den Text des Liedes verstehen?“ hakte Mawen nach.
„Ja. Es handelt von dem Helden Megev, der vor Jahrtausenden auf seinen Fahrten über das Meer die fünf Nachbarreiche Helwas entdeckte. Außerdem erzählt es von dem Goldenen Zeitalter, das der Entdeckung folgte, eine Zeit von Frieden, Handel und Wohlstand. Die letzte Strophe berichtet, wie die Götter die sechs Reiche im Zorn voneinander trennten.“
Mawen fragte: „Meint Ihr, das Lied beruht auf Tatsachen?“
„Sicher ist es in mancherlei Hinsicht ungenau, aber einen wahren Kern muss es haben, sonst hätten uns die Götter dies“, Zada zeigte auf den Heiligen Würfel, „nicht geschickt und mich auch nicht in Euer Land gebracht.“
Obgleich er selbst viele Fragen über die Herkunft seiner Tochter hatte, hatte er sich zurückgehalten. Sicher würde es Zada schnell zu viel werden. Sie hatte in den letzten Minuten so viel Neues über sich erfahren. Sie brauchte Zeit, dies zu verarbeiten. Daher bat er nun auch die Gelehrten, ihre Fragen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dann ging er zu seiner Tochter und schloss sie in die Arme. Er hielte sie einfach nur fest und spürte, wie ihre anfängliche Euphorie über die Entdeckung ihrer Herkunft nachließ und die Erschöpfung sich Bahn brach. „Ich bin so müde“, sagte sie leise. Daraufhin nahm Tharet seine zierliche Tochter, die ihm auch als Erwachsene kaum bis zur Brust reichte, einfach auf den Arm und trug sie in ihr Quartier im Tempelbezirk.
Nachdem ihr Vater sie zu Bett gebracht hatte, hatte sie fast den ganzen Tag geschlafen. Als Yerina gegen Abend nach ihr geschaut hatte, war sie von Klappen der Tür erwacht. Nun saß die Oberpriesterin an ihrem Bett. Zada hatte sich im Bett aufgesetzt, fühlte sich aber noch zu schwach, um aufzustehen. Da die Oberpriesterin schwieg, begann sie stockend zu erzählen, was in der Nacht geschehen war. Yerina hörte konzentriert zu, obwohl sie sicher schon mit Tharet gesprochen hatte. Erst als Zada geendet hatte, sagte sie: „Wie es scheint, haben die Götter etwas Besonderes mit Euch vor. Daher werde ich Euch von Euren Pflichten gegenüber dem Tempel freistellen, solange es nötig ist. Ihr werdet alle Unterstützung bekommen, die wir Euch bieten können.“
„Ich danke Euch. Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Was erwarten die Götter von mir?“
„Das kann ich Euch leider auch nicht beantworten, aber ich halte es für das Beste, wenn Ihr mit Mawens Hilfe die Inschrift des Heiligen Würfels übersetzt. Vielleicht enthält sie irgendwelche Hinweise. Jetzt werdet Ihr Euch erst mal ausruhen, sonst bekomme ich Ärger mit Euren Eltern. Die erwarten uns übrigens zum Essen. Kleidet Euch an, ich warte draußen auf Euch.“
Jahr 3619 Mond 4 Tag 12
Aaran
Nach den Enthüllungen im Tempel hatte Mawen es kaum erwarten können, endlich den Text zu übersetzen. Dazu brauchte er jedoch Zadas Hilfe. Er hatte sich also gedulden müssen, bis diese sich von der Nacht erholt hatte. Heute aber würden sie mit ihrer gemeinsamen Arbeit beginnen können. Er beendete seinen Morgenspaziergang und kehrte in seine Gemächer zurück, um dort auf die junge Priesterin zu warten.
Die Arbeit mit Mawen gestaltete sich unerwartet angenehm. Obgleich der junge Gelehrte sichtbar darauf brannte, die Übersetzung fertigzustellen, drängte er sie nicht, sondern gab
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