Töchter der Sechs (German Edition)
blieb eine riesige Leere. Nichts würde diese jemals füllen können. Er wusste nicht, woher er die Kraft nehmen sollte weiterzumachen. Schon einen Fuß vor den anderen zu setzen, war fast zu viel für ihn. Dennoch folgte er Kahal, der versprochen hatte, ihn bis nach Heet zu begleiten. Wie es dann weitergehen würde, darüber wollte er nicht nachdenken.
Jahr 3620 Mond 4 Tag 27
Vor der Küste Jalehas
Darija hatte gut navigiert, denn nach zwei Monden auf See kam die Küste Jalehas in Sicht. Noch zwei oder drei Tage und sie wäre zu Hause. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Eltern und ihre Brüder wieder in die Arme zu schließen. Sie war zwar nicht einmal neun Monde unterwegs gewesen, aber es war so viel passiert, dass es ihr wie Jahre vorkam. Aber bei aller Vorfreude konnte sie Mawen nicht vergessen, wie erging es ihm wohl jetzt? Und wie würden seine Eltern es aufnehmen, dass er in Helwa zurückgeblieben war? Hoffentlich hatte Mawen in seinem Brief die richtigen Worte gefunden, um Peria und Jeven seine Entscheidung zu erklären.
Als sie hörte, dass sie Cytria schon bald erreichen würden, war sie aufgeregt. Wie würde man sie aufnehmen? Was würde passieren, wenn ihre Schwester in den Tempel zurückkehrte? Wo würde sie dann leben? Darüber hatte sie noch nicht mit Zada gesprochen. Sie hatten so viel über ihre Vergangenheit geredet, dass sie nur wenige Gedanken an die Zukunft verschwendet hatten. Nun aber machte sich Tira Sorgen. Würde sie sich in ihrem neuen Leben zurechtfinden?
Zada sah ihrer Schwester an, dass sie etwas beschäftigte. Sie fragte: „Was ist los, Tira?“
„Nichts, ich habe nur nachgedacht.“
„Du siehst aber besorgt aus.“
Sie merkte, dass Tira zögerte. Sie nahm ihre Schwester in den Arm. Das schien ihr die Sicherheit zu geben, die sie gebraucht hatte, um sich zu öffnen. „Willst du in den Tempel zurückkehren?“
„Ich denke schon. Machst du dir etwa Sorgen, was dann mit dir ist? Wir können uns trotzdem noch ganz oft sehen und Galica und Tharet nehmen dich sicher gerne bei sich auf. Du wirst wählen können, was du lernen möchtest. Die Sprache hast du ja auch schon gut gelernt.“
Zada drückte ihre Schwester fest an sich. Ihr war nicht bewusst gewesen, welche Herausforderung der Neubeginn für Tira bedeutete. Sie würde alles tun, damit sie sich gut in Cytria einlebte.
Jahr 3620 Mond 4 Tag 28
Tempel-Oase
Jeder Tag glich dem vorangegangenen. Wenn sie nicht die Disziplin aufgebracht hätte, sie mit Kerben in einem Baumstamm zu zählen, sie hätte nicht sagen könne, ob zehn oder hundert verstrichen waren. Sie tat, was zum Überleben notwendig war, aß, trank und schlief. Die restliche Zeit dachte sie nach, über die Vergangenheit, die Zukunft; über das, was gewesen war, und das, was hätte sein können. Manchmal bildete sie sich ein, Elecs Stimme zu hören. Bisweilen träumte sie, dass sein Geist sie heimsuchte. Es machte ihr Angst, doch zugleich tröstete es sie. Mitunter hatte sie Angst, verrückt zu werden.
Am Morgen hatte sie die achtzehnte Kerbe in den Stamm geritzt. Nun saß sie im Schatten der alten Mauern und döste. Plötzlich vernahm sie Stimmen, zunächst gedämpft und diffus, dann lauter und klar. Sie riefen ihren Namen. 'Madia, deine Reise ist noch nicht zu Ende. Du wirst deine Aufgabe erfüllen.' Auch wenn sich diese Worte lediglich in ihrem Geist formten, so waren sie dennoch real. Sie wusste, dass es die Götter waren, die ihr diese Botschaft sandten. In Gedanken formte sie eine Antwort darauf: 'Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen?'
'Öffne deinen Geist. Vertraue auf deine Gefühle. Der Weg ist in dir.'
Was sollte das bedeuten? Warum konnten sich die Götter nicht verständlich ausdrücken? Gerne hätte sie noch viele Fragen gestellt, doch die Stimmen waren verstummt und ließen sie ratlos zurück. Sie stand auf, um einige Schlucke zu trinken. Sie sollte ihren Geist öffnen. Wie sollte sie das anstellen, sollte sie meditieren? Das hatte sie nie gelernt. Eigentlich wusste sie nicht einmal, wie man richtig betete. Auf Roteha hatte sie vieles gelernt, auch über Religion, doch mal lehrte sie dort nicht, zu glauben und ihr Schicksal in die Hände der Götter zu legen. Sie dachte an ihren Lehrmeister Ruwen und daran, was er stets zu sagen pflegte: 'Am Anfang einer jeden Entdeckung steht die Neugier. Nur wer die Welt mit Neugier betrachtet und so, als sähe er sie zum ersten Mal, vermag sie wirklich zu sehen.' Warum ihr
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