Töchter der Sechs (German Edition)
dieser Ausspruch wohl gerade jetzt eingefallen war? Vielleicht war er der Schlüssel? Vielleicht musste sie einfach nur die Augen öffnen und diesen Ort wirklich sehen? Aufmerksam schaute sie sich um. Zunächst konnte sie nichts entdecken, was eines zweiten Blickes gelohnt hätte, doch dann fiel ihr etwas auf. Es war weniger etwas, was sie gesehen hatte, sondern vielmehr etwas, was sie noch nicht gesehen hatte. Sie hatte noch nie den Fußboden des Tempels gesehen. Ein solches Gebäude aber musste einen Fußboden haben, er war wohl nur unter dem Sand begraben. Aufgeregt begann sie, in einer Ecke des Gebäudes im Sand zu graben. In einem Fuß Tiefe stieß sie auf etwas Hartes, vermutlich Stein. Es dauerte eine Weile, bis sie genug Sand entfernt hatte, um etwas zu sehen. Sie war wirklich auf den Boden gestoßen, denn der Stein war der gleiche wie der, aus dem die Wände errichtet worden waren. Er fühlte sich jedoch rauer an. Zu Vergleich strich sie über die Wand. Ja, irgendwas war anders. Sie pustete, um die letzten Sandkörner zu entfernen. Zum Vorschein kamen Buchstaben, die in den Stein gemeißelt waren. Die freigelegte Stelle war zu klein, als dass sie ein ganzes Wort sehen konnte. Wenn sie wirklich wissen wollte, was auf dem Boden des Tempels zu lesen stand, so würde sie eine Menge Sand beseitigen müssen. Ob dies die Mühe wert war? War es das, was sich die Götter von ihr erhofften? Sie hatten ihr gesagt, sie solle auf ihre Gefühle vertrauen, doch sie zögerte, ihre Gefühle zu ergründen. Sie erwartete, dort nichts als Schmerz und Trauer zu finden. Schließlich horchte sie doch vorsichtig in sich hinein und war erstaunt. Der Schmerz war nicht so überwältigend, wie befürchtet, sondern ließ Raum für ein anderes Gefühl: Neugier. Es verlangte sie, das Geheimnis des Tempels zu lüften. Dann sollte es so sein.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, Vorbereitungen zu treffen. Da sie weder Papier noch Tinte hatte, musste sie andere Möglichkeiten finden, sich Notizen zu machen. Einige der Früchte verfügten über einen sehr intensiv gefärbten Saft. Sie versuchte, mittels eines Stockes den Saft auf große Blätter aufzutragen, doch dies war nicht von Erfolg gekrönt. Natürlich konnte sie Sachen in die Rinde der Bäume ritzen oder in die Wände des Tempels, aber das war bei Weitem zu aufwendig. Sie würde also alles auswendig lernen müssen. Vielleicht gelang es ihr, aus Blättern eine Art Besen zu basteln, der es ihr erlaubte, einmal freigeräumte Bereiche des Bodens dauerhaft von Sand freizuhalten. Dann konnte sie den Text, so es denn einer war, in Gänze betrachten. Tatsächlich glückte ihr der Bau. Am nächsten Tag würde sie beginnen, den Sand aus dem Tempel zu schaffen.
Jahr 3620 Mond 4 Tag 29
Heet
Elec bahnte sich seinen Weg durch die Straßen Heets. Die Stadt machte einen lebhafteren Eindruck, als er es in Erinnerung hatte. Kahal hatte sich noch vor den Toren der Stadt von ihm verabschiedet. Nun war er auf sich allein gestellt. Obgleich er auf seinem Weg genug Zeit gehabt hätte, hatte er sich keinen Plan zurechtgelegt. Er wusste nicht, wie er seinem Vater gleich gegenübertreten sollte. Falls man ihn überhaupt in den Palast lassen würde. Er schaut an sich hinab. Die Reise der vergangenen Monde hatte ihre Spuren hinterlassen. Seine Kleidung war zerschlissen, seine Haut braun gebrannt, seine Haare lang und ungepflegt. Würden die Torwachen ihn überhaupt als Prinz Elec erkennen. Und was sollte er seinem Vater sagen, wenn er nun alleine zurückkehrte. Als er sich dem Palast näherte, sah er schwarze Fahnen auf jedem Turm wehen. Wessen Tod wurde hier betrauert? Vielleicht hatte sein Vater im Zorn mal wieder eine seiner Konkubinen getötet, nur um nachher bitterlich um sie zu trauern? So etwas war schon einmal vorgekommen.Er erreichte das äußere Tor und zu seinem Erstaunen erkannte die Wache ihn sofort. „Prinz Elec, welch Freude Euch wiederzusehen.“
„Was haben die schwarzen Flaggen zu bedeuten?“
Der Soldat wand sich vor Unbehagen, konnte dem Prinzen die Antwort jedoch nicht verweigern: „Ihr habt es noch nicht vernommen? Spricht man in der Stadt nicht davon? Der König liegt seit gestern schwer krank danieder.“
Jahr 3620 Mond 4 Tag 29
Jal
Kurz vor Sonnenuntergang steuerte Darija das Schiff in den Hafen von Jal. Felkan konnte deutlich ihre Ungeduld spüren. Als sie das Schiff in einen Liegeplatz festgemacht hatte, sagte er: „Lauft ruhig schon mal zu Euren Eltern,
Weitere Kostenlose Bücher