Töchter der Sechs (German Edition)
zurückkehrten, war er schlagartig hellwach. 'Elec', schoss es ihm sofort durch den Kopf. Seine Blicke schweiften durch die Oase. Sie war nicht groß, sodass er sie von seinem Standpunkt aus fast vollständig überblicken konnte. Als er Elec nirgends entdecken konnte, machte er sich auf, um die Ruine zu erkunden. Es musste einst ein wirklich prachtvolles Gebäude gewesen sein. Die Außenwände erhoben sich noch mindestens zehn Fuß hoch, doch das Dach fehlte. Er betrat den großzügigen Innenraum durch ein breites Portal. Es musste einst ein riesiger quadratischer Raum gewesen sein. Er war sich fast sicher, dass dies ein Tempel gewesen war. Die Worte Kahals kamen ihm in den Sinn. Wenn die Wüste tatsächlich ein Ort großer Kraft war, so war es sehr wahrscheinlich, dass die Menschen hier einen Tempel errichtet hatten. Seine Überlegungen zum Zweck dieses Gebäudes ließen ihn einen Moment vergessen, dass er hier nach Elec hatte suchen wollen. Da die Ruine leer war, lief er wieder nach draußen, um die Oase erneut abzusuchen, doch ohne Erfolg. Er würde sich also damit abfinden müssen, dass er seinen Freund verloren hatte. Dieses Eingeständnis traf ihn hart und er sank ermattet im Schatten eines Baumes zusammen. Den Rücken an den glatten Stamm gelehnt, dachte er über seine Situation nach. Er hatte versagt. In einer Oase in der Wüste würde er wohl kaum die Aufgabe erfüllen können, die die Götter ihm zugedacht hatten. Auch hatte er den Menschen verloren, der ihm alles bedeutet hatte. Elec war ihm Freund, Seelenverwandter und seine einzige Liebe gewesen. Nun aber war er tot. Nie wieder würde Mawen sich mit dem Prinzen austauschen können, nie weder neue Orte mit ihm erkunden oder die Freude über eine Entdeckung teilen. Nie wieder würde er seine Stimme hören, seine Hand auf der Schulter spüren, sehen, wie er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Er dachte an all die Dinge, die sie zusammen erlebt, all die Momente, die sie geteilt hatten. Tränen liefen über sein Gesicht, doch er spürte es nicht. Die Sonne war weitergewandert und schien ihm direkt ins Gesicht, doch er merkte es nicht. Seine Kehle war trocken und sein Magen knurrte, doch er bemerkte es nicht. Die Trauer war so übermächtig, dass sie alle anderen Empfindungen verdrängte. Der Schmerz war umso größer, da er nicht nur einer Zukunft ohne Elec entgegensah, sondern auch auf eine Vergangenheit voller verpasster Chancen zurückblicken musste. Warum hatte er ihm nicht viel früher gesagt, wie er empfand? Wieso musste er seine wahre Identität so lange verbergen? Vielleicht wäre alles anderes gekommen, wenn er sein Geheimnis gelüftet hätte. War dies die Strafe der Götter dafür? Er hatte sich selbst für einen Gelehrten gehalten und doch war er so dumm gewesen. Er hatte es nicht besser verdient. Den Rest seines Lebens würde er Buße tun dafür, dass seine Ignoranz Elec das Leben gekostet hatte. Der erste Schritt dazu war, seine Selbsttäuschung zu beenden. Ab heute würde er nie wieder Mawen sein, sondern Madia.
Sie legte ihre Kleider ab und entfernte auch den Streifen Stoff, den sie stets über ihre Brüste gewickelt hatte, um sie flach zu drücken. Sie ließ ihren Blick ihren Körper hinabgleiten, so als sähe sie ihn zum ersten Mal. Noch nie hatte sie sich auf diese Art betrachtet. Selbst wenn sie allein gewesen war, hatte sie es stets vermieden, sich allzu sehr mit ihrem weiblichen Körper zu befassen. Dies hatte es ihr leichter gemacht, Mawen zu sein. Wenn sie sich selbst nicht als Frau wahrnahm, konnte sie auch andere besser täuschen. Von nun ab aber würde sie Madia sein, mit allem, was dazugehörte. Sie stieg in den See, um ihren Körper zu reinigen. Auch ihre Kleider spülte sie aus, so gut es ging und legte sie in die Sonne, auf dass sie trockneten. Nackt, wie sie war, begann sie, die Oase gründlich zu erkunden. Schnell fand sie einige Grassorten, deren Körner essbar waren. Auch einige der Bäume und Sträucher trugen Früchte. Vorerst würde sie also nicht verhungern. Sie aß einige Früchte und begann dann, eine geeignete Stelle für ein Nachtlager zu suchen. Sie entschied, dass die Mauern des Tempels wohl den besten Schutz vor Wind bieten würden, daher begann sie, Laub in einer der Ecken anzuhäufen. Die Nächte in der Wüste konnten kalt sein und das Laub würde ihr wenigstens etwas helfen, sich warmzuhalten. Ihre Kleidung war getrocknet und sie zog zumindest das Hemd wieder an. Die Hose und diverse Tücher, die
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