Töchter des Schweigens
imstande sein werde zu schreiben. Ich gebe ihn dir, weil er alles ist, was ich habe, und weil er für mich bald nutzlos sein wird.
(Als ich diese Zeilen schrieb, war dies nichts weiter als ein rhetorischer Kunstgriff. Mein Tod, so gewiss wie der aller anderen auch, war nur eine theoretische Möglichkeit, während ich jetzt weiß, dass er nah ist und mich in wenigen Wochen ungeduldig erwartet. Jedenfalls habe ich nicht mehr die Kraft, diese Seiten durchzugehen, sondern werde sie dir so geben, wie sie sind, allerdings Kommentare wie diesen einfügen, um dir den Unterschied zwischen damals und heute verständlich zu machen, der sicher eine gewisse Bedeutung hat.)
Aber ich vertraue ihn dir an, weil du möglicherweise Verwendung dafür hast. Mit etwas Glück kannst ja vielleicht du für Gerechtigkeit sorgen. Wenn nicht, wirst du zumindest etwas von dem verstanden haben, was du schon immer zu wissen glaubtest.
Dies ist die Geschichte eines Verbrechens. Das sage ich vorweg, damit du, wenn du zu lesen beginnst und siehst, dass ich abschweife – wozu ich ja neige –, nicht meinst, es handelte sich um leere Worte, um das, was die Unwissenden Literatur nennen, weil ihnen der Begriff Fiktion nicht geläufig ist und weil sie sich nicht klarmachen, dass sich hinter der Fiktion immer eine Wahrheit verbirgt. Siehst du? Schon schweife ich ab.
Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich dich duze, als wären wir alte Bekannte, aber noch bin ich mir nicht sicher, wer der Empfänger meines Romans sein wird, und ich finde es albern, eine Person zu siezen, von der ich vermute, dass sie in die Geschichte verwickelt ist, also einen meiner ältesten Bekannten oder eine meiner Freundinnen. Aber ich kann mich auch täuschen.
(Ja. Ich habe mich getäuscht. Wie so oft in meinem Leben. Jetzt spielt es keine Rolle mehr.)
Ich werde dir schildern, in meinen Worten, von meinem Standpunkt aus – wie könnte ich die Bedeutung des Standpunkts unterschätzen, schließlich habe ich mein Leben damit verbracht, Mandanten vor Gericht zu verteidigen, wobei mir vollkommen klar war, dass der andere ebenso recht haben konnte wie ich oder der Angeklagte? –, was sich im Sommer 1974 auf der Klassenfahrt nach Mallorca ereignete, mit der wir unseren Schulabgang, unseren Eintritt ins Erwachsenenleben feierten.
Ich werde in der dritten Person erzählen, von außen betrachtet, als wäre ich nicht eines dieser Mädchen gewesen, und versuchen, das Geschehene so zu erklären, dass ich es selbst begreifen, vielleicht akzeptieren und mir vergeben kann, uns vergeben kann.
Genug der Vorreden. Der Roman beginnt.
Stell dir deine Geburt folgendermaßen vor:
Du wirst nicht geboren, wenn man dich dem Mutterleib entreißt. Was da geboren wird, ist ein Potential, ein winziges Wesen, das zu nichts weiter imstande ist, als nach Nahrung, Wärme und Zuneigung zu verlangen. Von den Erwachsenen um dich herum lernst du nach und nach, wer du bist, wo du lebst, wie deine Welt ist.
Und die Welt ist wie ein gewaltiges Schloss, voller Reize, voller Gefahren, ein verwunschener Ort, wo alles fremd und geheimnisvoll ist. Aber sie sind da, um dir zu zeigen, wo du spielen kannst, was du meiden musst, was dir zuträglich ist und was nicht.
Du stellst nichts in Frage, ziehst keine Vergleiche, die Dinge sind, wie sie sind, du greifst zu und genießt sie, wenn du Glück hast. Wenn du Pech hast, selbst wenn du das noch gar nicht weißt, erduldest du sie, nimmst sie hin und forschst weiter.
Eine nach der anderen öffnen sich dir die Türen zu Räumen, deren Zweck dir kaum begreiflich ist, und, geführt von den Erwachsenen, durchwanderst du zuerst das Erdgeschoss, steigst dann, höher, immer höher, die steile Treppe hinauf, riesige Stufen aus Ebenholz und Elfenbein wie die Tasten eines Klaviers, das deine anfangs zaghaften und, je größer du wirst, immer festeren Schritte zum Klingen bringen.
Irgendwann kennst du das Schloss, oder zumindest glaubst du das. Du kennst die Anordnung der Zimmer, findest dich mühelos in den gewundenen Gängen zurecht, weißt, was sich hinter jeder geschlossenen Tür verbirgt. Die Geräusche des Hauses sind dir vertraut und seine Düfte und sein Gestank.
Und eines schönen Tages nehmen die Menschen, die dich am meisten lieben, die dich bis zu diesem Augenblick begleitet haben, plötzlich deine Hand und sagen dir in diesem geheimnisvollen Flüsterton, auf den du seit Langem sehnlich gewartet hast, dass es nun so weit ist, dass der Moment gekommen ist, das
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