Töchter des Schweigens
dass dieser Gesichtsausdruck so etwas wie eine arrogante, herablassende Grimasse war, die mich schützte und mir viele Probleme ersparte, weil sogar den Lehrern mulmig wurde, wenn ich sie so anlächelte, die mich aber auch von den anderen trennte, selbst von den Gruppen, denen ich gern angehört hätte. Im Lauf meines Lebens habe ich diese Fähigkeit perfektioniert und zu einem sehr nützlichen Werkzeug entwickelt, außer denen gegenüber, die mich gut kennen. Und sogar bei ihnen funktioniert es manchmal, sogar bei den Mädels, noch nach über dreißig Jahren.)
Nach einer gewissen Zeit im Labyrinth begriff Candela die Wahrheit eines Ausspruchs, den sie zu Hause oft gehört hatte: Auf allen Wegen trifft man zwei Arten von Wesen, Engel und Dämonen, und man braucht ein gutes Auge, um sie zu unterscheiden, weil vor allem die Dämonen sich so gut zu tarnen wissen, dass niemand auf Anhieb sieht, auf welcher Seite sie stehen.
In ihrem Fall war die Sache allerdings sonnenklar. Als sie zum ersten Mal einem Engel begegnete, wusste sie es sofort, und an dem Klopfen in ihrer Brust erkannte sie, dass Margarita Montero Juan für immer Teil ihres Lebens sein und ihr Dasein von diesem Augenblick an mit ihrem Licht überfluten würde.
Der Dämon, den sie ebenfalls erkannte, kaum dass ihre Blicke sich trafen, war Matilde Ortega Navarro.
(Viel später begriff ich, dass es ganz so einfach dann doch nicht war und dass, selbst wenn Mati wahrhaftig ein Dämon gewesen sein sollte, Marga auch nicht der makellose Engel war, den ich in ihr sehen wollte.)
Alle, aus denen später die Siebenerclique bestehen würde, lernten sich im ersten Jahr der höheren Sekundarstufe mit Schwerpunkt Geisteswissenschaften kennen. Zu Anfang waren sie achtundzwanzig Schüler und Schülerinnen, und ihre Klasse blieb noch zwei Jahre lang gemischt; danach, vor dem letzten Schuljahr, dem Vorbereitungskurs auf die Universität, gingen einige ab, die nicht vorhatten zu studieren, und irgendjemand – wahrscheinlich der Schuldirektor oder seine Frau – beschloss, die Geschlechter zu trennen und eine Jungen- und eine Mädchenklasse zu bilden. So kam es, dass die Mädchen auf der Klassenfahrt nach Mallorca von Don Javier und Doña Marisa begleitet wurden und die Jungen von Don Telmo und Doña Loles.
Im Labyrinth liegen nicht alle Entscheidungen bei demjenigen, der darin unterwegs ist, und es gibt Türen, die von allein aufgehen, während andere verschlossen bleiben, so fest man auch dagegendrückt. Im Nachhinein ist es leicht, diesem Umstand die Fehlentscheidungen anzulasten, die einen auf Wege geführt haben, die man gar nicht absichtlich eingeschlagen hat. Hinterher bleiben einem nur Selbstmitleid, Wut, Ohnmacht und die tiefe Demütigung, seiner Freiheit beraubt worden zu sein. Aber man muss auch stets mit dem Zufall rechnen. Und was Candela und ihre Freundinnen angeht, sorgte der Zufall dafür, dass ihre Schulkameraden an diesem 28. Juni in einem anderen Hotel übernachteten. Somit standen die Mädchen allein vor der Tür, beschlossen, sie zu öffnen, und sahen sich mit einer Ungeheuerlichkeit konfrontiert, die sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr loslassen sollte.
Es war ein bewegtes Schuljahr in einer Epoche, in der auch unsere Geschichte, die Geschichte Spaniens, in ständiger Bewegung war, als hätte das ganze Land 1973/74 eine Achterbahn bestiegen, die, zumindest vorläufig, auf Francos Tod am 20. November 1975 zusteuerte.
Im September, kurz bevor der Unterricht begann, wurde in Chile Salvador Allende ermordet. Dann sprengte die ETA den spanischen Regierungschef Luis Carrero Blanco in die Luft, Nixon kämpfte mit Zähnen und Klauen gegen die Watergate-Affäre, Prinzessin Anne von England heiratete Mark Phillips, Candela machte ihren Führerschein, Paquito Fernández Ochoa – ein Skiläufer aus Spanien! – eroberte die Pisten der Welt, Barbra Streisand und Robert Redford in So wie wir waren waren das Paar der Stunde, Marga begann, mit Manolo auszugehen, die SLA entführte Patricia Hearst, in Portugal fand die »Nelkenrevolution« statt, Cruyff schoss Tore für den FC Barcelona, trotz Protesten aus aller Welt wurde Salvador Puig Antich hingerichtet, Leben und sterben lassen kam ohne Sean Connery und mit Roger Moore in die Kinos, Marga und Candela küssten sich im verwaisten Schulhof, Golda Meir trat als israelische Ministerpräsidentin zurück, Francos Enkelin Mariola heiratete Rafael Ardid, Neil Young sang Heart of Gold, die Clique vom 28sten
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