Töchter des Schweigens
Lina, du bist ein Schatz. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.«
Dann wählte sie noch eine Nummer.
Eine halbe Stunde später verließ sie angezogen und geschminkt das Haus.
Nachdem sie eine Nacht geschlafen und mit Philip, ihrem Anwalt, gesprochen hatte, fühlte sich Rita besser. Sie kannte Philip seit ihrem ersten Film, und mittlerweile war er so etwas wie ein Freund geworden, obwohl ihm sein britisches Naturell verbot, wirklich offen zu sein oder Fragen zu stellen, die für das Problem, das sie gerade zu lösen hatten, nicht hundertprozentig relevant waren. Das konnte sie unter anderen Umständen zur Verzweiflung treiben, kam ihr aber jetzt durchaus gelegen, da sie nicht die Absicht hatte, ihm mehr zu erzählen, als absolut notwendig war.
Sie hatten vereinbart, dass er sich mit einigen Madrider Kollegen in Verbindung setzen würde, Spezialisten auf diesem Gebiet, und, wenn nötig, auch zu ihr nach Elda käme, um ihr zur Seite zu stehen, denn Rita hatte ihm klipp und klar gesagt, dass sie Ingrid nicht die Ferien verderben wollte und diese darum vorerst nichts erfahren sollte.
Doch nachdem das Wichtigste jetzt in die Wege geleitet war, würde sie sie anrufen müssen; also beschloss sie, es sich beim Frühstück in der Bar noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und ihr dann in knappen Worten das mit Lena zu erzählen, damit sie ihr später nicht vorwerfen konnte, sie bei etwas so Schwerwiegendem außen vor gelassen zu haben.
Beim dritten Ton brach das Klingelzeichen ab, und als sie es gerade noch einmal versuchen wollte, klingelte ihr Handy.
»Verzeih, dass ich dich weggedrückt habe, aber ich war gerade in der Moschee in Córdoba und konnte nicht sprechen. Jetzt bin ich draußen im Hof. Wie läuft’s bei dir? Kommst du mit dem Ausmisten der Wohnung voran?«
Dass in der Wohnung etwas zu tun sein könnte, war Rita überhaupt nicht in den Sinn gekommen.
»Nein«, gestand sie. »Aber weißt du …, hör zu, Ingrid, es ist etwas geschehen.«
»Was denn?«
»Lena.«
»Lena, und weiter?«
»Sie ist tot.«
»Waaas?«
Rita schwieg einen Moment, um ihr Zeit zu geben, die Nachricht zu verdauen.
»Ein Unfall?«
»Selbstmord, vermutlich.«
»Oh, dear ! Wann ist das passiert?«
»Vor zwei Tagen. Ich hatte es dir nicht gesagt, um dir den Urlaub nicht zu vermiesen, aber schließlich dachte ich, du solltest es wissen.«
»Willst du, dass ich komme?«
»Nein, Ingrid. Wozu?«
»Ja, ich habe schon gemerkt, dass ich überflüssig bin.«
Rita verzog grimmig das Gesicht vor dem Spiegel der Bar.
»Das ist es nicht. Es würde wirklich nicht helfen, wenn du herkämst. Wir wissen nicht einmal, wann sie beerdigt wird, weil sie eine Obduktion machen müssen und Gott weiß was noch alles. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich etwas weiß.«
Ein Schweigen entstand, in dem Rita fernes Geläut vernahm, den tiefen, feierlichen Klang von Glocken in Córdoba.
»Gestern habe ich mit den Kindern gesprochen«, sagte Ingrid nach vielen Glockenschlägen, die Rita wie eine Ewigkeit vorkamen. »Es geht ihnen gut, aber sie vermissen uns, uns beide. Ich dachte schon, wir könnten vielleicht nach Kuba fliegen, eine Woche dort bleiben und dann alle zusammen nach Elda zurückkommen, aber du kannst jetzt natürlich nicht.«
»Das geht im Moment nicht, nein, aber du kannst ruhig fahren, Ingrid, im Ernst.«
»Dann wäre ich am anderen Ende der Welt, falls du mich brauchst.«
»Wenn ich dich unbedingt brauche, ist es eine Reise von zehn oder zwölf Stunden. Wir leben ja nicht mehr im Zeitalter von Marco Polo.«
»Aber du rufst mich an, wenn ich etwas tun kann.«
»Das verspreche ich dir. Du weißt, dass ich mich noch nie gescheut habe, dir zu sagen, wenn ich dich brauche.«
»Ja. Ich weiß.« Rita sah Ingrids Lächeln fast vor sich.
»Aber jetzt brauchen dich Shane und Glynis mehr als ich.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Wir telefonieren wieder. Ich küsse dich.«
»Ich küsse dich auch, Rita. Sei lieb zu dir, versprichst du mir das?«
»Klar doch.«
Als das Gespräch beendet war, fühlte sie sich maßlos erleichtert, schaltete das Handy aus und bestellte noch einen Milchkaffee, ehe sie sich, wie immer, daranmachte, ihr Gefühl zu analysieren. Sie pflegte diese Angewohnheit vor sich selbst zu rechtfertigen, indem sie sich sagte, sie müsse ja schließlich begreifen, was in ihrem eigenen Inneren vorging, weil sie sonst niemals lebensechte Filmfiguren schaffen könne. Aber sie wusste auch, dass dies nicht die ganze
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