Töchter des Schweigens
die sich sanft in der Elf-Uhr-Sonne wiegen.
»Was für ein Zirkus«, bemerkt er. »Wie konnte ich mich nur breitschlagen lassen, mit euch zu fahren?«
»Weil eine männliche Begleitperson gebraucht wird, weil die Mädchen dich anbeten und die Eltern dir vertrauen. Und weil es immer gut ist, einen Priester dabeizuhaben. Und weil du ein lieber Kerl bist, Javi.«
»Aber jetzt sind es doch nur elf …, da bin ich vielleicht gar nicht mehr nötig. Ihr seid zu viele Frauen für mich, das musst du verstehen.«
»Dann stell dir doch einfach vor, wir wären alle von der Marianischen Kongregation.«
»Satansbraten seid ihr«, gibt er mit einem Auflachen zurück. »Sag mal, warum, glaubst du, macht der Gedanke an eine Diskothek sie so glücklich?«
Marisa wischt die Brotkrümel weg, die an ihrem Pullover hängen geblieben sind.
»Warst du schon mal in der Diskothek hier im Ort, in die unsere Schüler gehen?«
»Im Copacabana?«
Sie nickt.
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann ist mir klar, warum du es nicht verstehst. Das Copacabana ist eine Art Garage ohne jeden Charme, fast wie die Tanzsäle von früher, nur mit weniger Licht. Tische entlang der Wände, in der Mitte ein Platz zum Tanzen, den man nicht mal als Tanzfläche bezeichnen kann, eine Kugel aus Spiegelchen, ein paar rote Scheinwerfer und eine Theke wie in der Kantine. Die einzige Dekoration sind ein paar Poster von Bands wie Los Bravos , Los Mustang , Los Sirex und solchen Leuten. Wenn sie an eine mallorquinische Diskothek denken, ist das für sie das Eldorado. Ganz abgesehen davon, wollen sie natürlich Ausländer kennenlernen.«
»Wozu denn?« Javiers Verblüffung ist echt.
»Um mit ihnen anzubändeln, Mann Gottes. Weil sie siebzehn, achtzehn Jahre alt sind und von den Jungs im Dorf die Nase voll haben. Sie möchten sich erwachsen fühlen, weltgewandt, verwegen. Ausprobieren, ob das Französisch und das Englisch, das wir ihnen beibringen, zu irgendetwas nütze ist. Bei ihrer Rückkehr etwas zu erzählen haben. Endlich einmal aus diesem verdammten Kaff rauskommen.«
Beim letzten Satz wird ihr Ton ein wenig heftig, und Javier begreift, dass sie nicht nur von ihren Schülerinnen spricht.
»Du sehnst dich auch danach, hier rauszukommen, stimmt’s?«
Marisa zuckt mit den Schultern, als sei das nicht von Bedeutung.
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Javi. Aber nachdem ich es endlich geschafft hatte, Trujillo zu verlassen, und fünf Jahre in Madrid studiert hatte, war es hart, hier zu landen, das musst du verstehen. Ich war froh, Arbeit zu haben, klar, aber man sagte mir, es sei nur für ein Jahr. Und jetzt bin ich schon vier Jahre hier. Sie wollen mich partout nicht versetzen. Ich habe es satt, mit Paca und Inés in einer halb leeren Wohnung zu leben, auf einer Pritsche zu schlafen und meine Bücher in ein Regal aus Brettern und Ziegelsteinen zu stellen. Das ist nicht, wovon ich als kleines Mädchen geträumt habe.«
»Wovon hast du denn geträumt?«
»Was weiß denn ich!«, sagt sie beinahe zornig, als die Klingel das Ende der Pause ankündigt. »Ich wollte nicht mit zwanzig heiraten und einen Stall voll Kinder bekommen. Ich wollte studieren, mein eigenes Leben führen, unabhängig sein, die Welt sehen.«
»Ja und?«, sagt Javier sanft, »das hast du doch alles.«
Marisa zieht die Schultern hoch, nimmt ihre Bücher und einen Stapel korrigierter Hefte und drückt sie gegen die Brust.
»Und so geht’s jetzt weiter, bis ich sechzig bin, ja? Von Dorf zu Dorf, von einer Versetzung zur anderen, und immer neuen Kindern immer dasselbe beibringen?«
»Dann heirate doch Gregorio, dann hättest du wenigstens jemanden zum Streiten.«
Sie lacht, klopft dem Priester auf die Schulter, verlässt den Seminarraum und denkt, dass sie die Mädchen nur zu gut verstehen kann und alles tun wird, um ihnen eine Woche der Freiheit und Träume zu ermöglichen. Und wenn ihnen später nichts weiter bleibt, wenn sie in zehn Jahren enttäuschte Frauen von fast dreißig sein sollten, werden sie zumindest diese glorreichen Tage erlebt haben.
Die Klingel scheppert wie verrückt, und die Mädchen schlingen hastig die letzten Happen Thunfischpastete hinunter, bevor sie zurück ins Klassenzimmer gehen.
»Moment, einen Moment!« Marga überschreit den allgemeinen Tumult. »Wir müssen ein Foto machen.«
»Jetzt?«, fragt Candela ungeduldig. »Kein guter Moment, den du dir da ausgesucht hast …«
»Ja, jetzt. Weil es jetzt ernst wird mit der Klassenfahrt. Ein Foto
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