Töchter des Schweigens
für die Zukunft, Mädels.«
Die sechs Freundinnen lächeln und legen einander die Arme um die Schultern, hinter sich das massige weiße Schulgebäude, neben sich ein paar Bäume, die kaum größer sind als sie.
»Nein, warte«, sagt Ana. »Wir müssen alle sieben drauf. Gabriel! Knipst du uns mal?«
Ein schlaksiger Junge mit Pickelgesicht strahlt, als hätte er einen Preis gewonnen, wirft seine Zigarette weg und greift nach Margas Kamera.
»Schau«, sagt sie, »ich habe schon scharf gestellt. Du brauchst nur noch hier draufzudrücken.«
»Ich bin ja nicht blöd.«
»Natürlich nicht, entschuldige. Es ist halt noch eine manuelle …«
Marga stellt sich zu den Freundinnen, neben Candela, ohne Gabriel aus den Augen zu lassen, der mit der Kamera herumalbert, sich spielerisch dahinter verschanzt und die Mädchen zum Lächeln und Posieren auffordert.
»Los, los, wir kommen zu spät«, drängt Tere.
Marga schnappt sich ihre Kamera, spult den Film weiter, schraubt den Deckel auf die Linse, schaut mit zufriedenem Lächeln in den blauen Himmel, auf die jenseits der Mauer in der Sonne schimmernden Pinien und auf die Azorín-Büste, die verloren inmitten einer Fläche steht, aus der später einmal ein Garten werden soll, dann rennt sie hinter ihren Freundinnen her und verbeißt sich einen Jubelschrei.
Mai 2007
Es ist ein kleines Schwarzweißfoto von sehr schlechter Qualität. An den Rändern haben sich gelbe Flecken gebildet wie eine Hautkrankheit, die sich auszubreiten und die Konturen der jugendlichen Gesichter zu befallen droht.
Rita holt die quadratische Lupe heraus, die Tante Dora in der rechten oberen Schublade von Großvaters monströsem Schreibtisch aufbewahrte, und legt sie über das Foto. Die Gesichter werden größer, ohne ihr zeitloses, in dem dreiunddreißig Jahre alten Schnappschuss eingefrorenes Lächeln zu verlieren.
Das dunkle, stille Arbeitszimmer scheint sich zusammenzuziehen und zurückzuweichen, als Rita die Brille hochschiebt und nach der qualmenden Zigarette im Aschenbecher tastet. Sie dreht das Foto um und liest: »28. Mai 1974«. Wieder gleitet ihr Blick über die jungen Gesichter, sie spürt, wie ihr die Kehle eng wird, und weiß, dass das nicht von dem Rauch in ihren Lungen kommt.
Das war knapp einen Monat vor der Abschlussprüfung, denkt sie, einen Monat vor der Klassenfahrt, bevor unser Leben eine unwiderrufliche Wende nahm, die niemand vorausahnen konnte. Einen Monat vor der Tragödie.
Sie konzentriert sich auf die Reihe der Mädchen: im Zentrum, wie immer, Carmen, temperamentvoll, mit ihrer gewaltigen strohblond gefärbten Lockenmähne, die auf dem Foto grau aussieht; neben ihr Ana, süß und schelmisch, stets ein wenig im Schatten der anderen, die schon fraulicher und selbstbewusster waren, dafür aber aufgeweckter, kämpferischer als sie alle zusammen; auf der anderen Seite Tere mit ihrer Ausstrahlung einer patenten jungen Frau, fleißig, ernsthaft, Klassensprecherin, jederzeit bereit zu helfen; dann Sole, sehr niedlich und sehr sorgfältig zurechtgemacht, die das Ende der Schulzeit herbeisehnte, um ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen; am einen Ende Magda, wunderschön mit ihrem glatten langen Haar und dem Stirnband, die Einzige von ihnen, die schon in London gewesen war und sich als Teil der Flower-Power-Bewegung fühlte, so weit entfernt diese von ihrem täglichen Leben auch sein mochte; am anderen Ende Candela mit ihrem ironischen Lächeln, ihrer kalten Arroganz, ihrem Profil einer byzantinischen Kaiserin; und daneben sie selbst kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag, Rita, die damals noch Marga hieß, lang und mager, mit ihrem störrischen Haar, das auf Betreiben ihrer Mutter stufig geschnitten war und immer zerzaust wirkte, mit ihrem neugierigen Blick, der mit den Jahren immer forschender geworden ist. Sieben Mädchen im letzten Schuljahr, dem Vorbereitungskurs für die Universität. Die Clique vom 28sten.
Im Hintergrund sieht man den weißen quadratischen Klotz des Gymnasiums und in einer Ecke, abseits der Gruppe und schon halb zerstört von dem gelben Fleck, der sich von der Oberkante über das Bild schiebt, Matis verschlagenes Gesicht, das zu den anderen hinüberstarrt, diese feindseligen Augen, die Rita, wie so vieles, völlig vergessen hatte.
Sacht streichen Ritas Finger über die Reihe lächelnder Mädchen. Sie blickt auf ihre lange knochige Hand mit den hervortretenden Adern und fühlt einen Stich. Sie weiß nicht, ob sie den Mut hat, den anderen
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