Töchter des Schweigens
zusammengekommen sind.
Sie erwidern erwartungsvoll seinen Blick. Das ganze Jahr haben sie Kinder gehütet, kleine Aufträge erledigt, die monatliche Schülerzeitung herausgebracht, Festivals organisiert und Eintritt kassiert, Freunden und Bekannten die Teilnahme an allen möglichen Gewinnspielen aufgeschwatzt, ganz zu schweigen von der Weihnachtslotterie, für die sie im Herbst von Haus zu Haus gezogen sind, um Lose zu verkaufen, mit dem einzigen Ziel, das Geld für die ersehnte Abiturfahrt zusammenzubekommen, und jetzt stellt sich heraus, dass von den zweiundzwanzig der Klasse nur die Clique der sieben Freundinnen, Reme und die drei aus Novelda übrig geblieben sind. Gerade mal die Hälfte.
Don Javier zieht die Liste hervor, fährt mit dem Finger langsam über die Namen und nickt wieder.
»Alles klar. Die Eltern von elf Schülerinnen haben mir geschrieben, dass ihre Töchter nicht mitkommen, demnach sind wir also vollzählig. Jetzt fehlt nur noch Doña Marisa, die jeden Moment hier sein muss.«
In diesem Augenblick geht die Tür auf, und die Englischlehrerin kommt herein, in der Hand ein belegtes Brötchen. Don Javier steht auf, überlässt ihr seinen Stuhl und holt sich einen anderen.
»Das wird super«, sagt sie lächelnd, nachdem sie die durchgestrichenen Namen auf Don Javiers Liste überflogen hat. »Da wir nur so wenige sind, genügt uns ein Kleinbus, und wenn ich mich nicht verrechnet habe, werden eure Eltern fast nichts drauflegen müssen.«
»Du hast doch nicht etwa vor, das ganze Geld für uns zu behalten, das gehört schließlich allen«, empört sich Don Javier.
Seine Kollegin sieht ihm ins Gesicht, schluckt den Bissen hinunter und erwidert lächelnd: »Aber klar doch. Das war von Anfang an so ausgemacht, weißt du nicht mehr? Was da ist, wird unter denen aufgeteilt, die mitfahren. Du und ich, wir behalten nichts davon, keine Angst, aber womöglich gibt uns die Schule ja einen kleinen Zuschuss. Telmo sagt, unsere Finanzlage sei dieses Jahr nicht schlecht, und wenn er und seine Frau die Jungengruppe begleiten …«
»Aber wir wohnen doch im selben Hotel, oder nicht?«, fällt ihr Carmen ins Wort.
Doña Marisa, eine Frau in den Dreißigern aus Extremadura mit einer so starken Dauerwelle, dass ihre schwarzen Löckchen aussehen wie Sprungfedern, lächelt wieder.
»Nein. Der Direktor und Doña Loles haben sich für ein Riesenhotel mitten in Palma entschieden, und wir gehen ins Paradies.« Sie legt das Brötchen beiseite und holt einige Prospekte aus ihrer Schreibtischschublade. Die Mädchen beugen sich eifrig darüber, zwinkern einander zu und können kaum das Kichern unterdrücken, das ihnen unwillkürlich in die Kehle steigt.
Auf dem Faltblatt, das Marisa über den Schreibtisch breitet, ist eine traumhafte Landschaft zu sehen: eine felsige Bucht, ein golden in der Sonne schimmernder Sandstrand, ein aus kleinen weißen Bungalows bestehender Hotelkomplex, ein Schwimmbad mit Sonnenschirmen aus Palmwedeln und ein blaues, blaues Meer, das mit dem Himmel zu verschmelzen scheint.
»Das Hotel hat einen Pool, wie ihr seht, einen Grillplatz im Freien, ein Restaurant und eine Diskothek. Es gibt einen Linienbus, der stündlich nach Palma fährt, und außerdem haben wir ja unseren Minibus.«
Bei dem Wort »Diskothek« brechen die Mädchen in aufgeregtes Geschrei aus und fallen einander in die Arme. Der Hinweis auf den Bus geht im Geschnatter unter. Die beiden Lehrer wechseln einen halb genervten, halb nachsichtigen Blick.
»Aber glaubt ja nicht, dass wir jeden Abend dort verbringen werden. Ihr seid minderjährig, und das müssen wir erst einmal mit euren Eltern abklären«, sagt Don Javier und bemüht sich um einen strengen Tonfall. Doch die Mädchen bekommen gar nicht mit, was er sagt. Sie plappern wie Maschinengewehre, und er sieht ein, dass dies nicht der geeignete Moment ist, sich Gehör zu verschaffen.
Marisa gibt jeder ein vervielfältigtes Blatt.
»Sagt euren Eltern, sie sollen das Geld auf dieses Konto überweisen und den unteren Abschnitt unterschreiben. Den bringt ihr mir so bald wie möglich wieder. Wer ihn nicht abgibt, bleibt zu Hause, alles klar? Los, wenn ihr euch beeilt, habt ihr vor dem Unterricht noch Zeit zum Essen. Die Kantine dürfte schon so gut wie leer sein.«
Die Lehrerin scheucht sie aus dem Seminarraum wie Hühner und bleibt mit Javier allein zurück. Der steht am Fenster, die Hände auf den Rücken gelegt, und besieht sich das Treiben auf dem Schulhof und die Pinienkronen,
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