Töchter des Schweigens
zum Klingen bringen.
Irgendwann kennst du das Schloss, oder zumindest glaubst du das. Du kennst die Anordnung der Zimmer, findest dich mühelos in den gewundenen Gängen zurecht, weißt, was sich hinter jeder geschlossenen Tür verbirgt. Die Geräusche des Hauses sind dir vertraut und seine Düfte und sein Gestank.
Und eines schönen Tages nehmen die Menschen, die dich am meisten lieben, die dich bis zu diesem Augenblick begleitet haben, plötzlich deine Hand und sagen dir in diesem geheimnisvollen Flüsterton, auf den du seit Langem sehnlich gewartet hast, dass es nun so weit ist, dass der Moment gekommen ist, das Labyrinth kennenzulernen.
Du hast immer gewusst, dass es im Schloss ein Labyrinth gibt. Du hast die Großen davon reden hören, wenn du dich bei ihren endlosen Alte-Leute-Gesprächen gelangweilt hast. Du hast sie jammern, fluchen, weinen und sinnlose Mutmaßungen darüber anstellen hören, wie der Weg hätte verlaufen können. Und immer hast du gewusst, dass du es schaffen wirst, dass für dich kein Labyrinth zu schwierig ist, weil du anders bist, besser als sie alle, weil du jung bist und niemals zurückblicken wirst.
Zuweilen befindet sich das Labyrinth im Keller des Schlosses, zuweilen unter dem Dach, immer weit weg, außerhalb deiner Reichweite, sodass du es bequem vergessen kannst, während du wartest, bis die Reihe an dir ist. Doch jetzt ist es da, vor deinen Augen, und es ist immer das gleiche: ein einladend geöffnetes Tor, ein kleiner hell erleuchteter Vorraum mit mehreren geschlossenen Türen. Manchmal sind es nur zwei, manchmal so viele wie in einem Hotelflur, und du rührst dich lange nicht von der Stelle, siehst dir alles genau an, versuchst, dich zu entscheiden, deinen Weg zu wählen.
Dann verschwinden die Erwachsenen und lassen dich vor dem Labyrinth allein. Hinter dir geht das Licht aus, und du weißt, dass es kein Zurück gibt, dass du ihnen wiederbegegnen wirst, wenn du die richtigen Türen wählst, aber dass es nie mehr dasselbe sein wird, denn das Schloss wird sich verändern, während du im Labyrinth bist, und die Menschen werden sich verändern, auch wenn du sie immer wiedererkennen wirst. Was du nicht weißt, ist, dass auch du dich verändern wirst. Sie haben es dir gesagt, aber du hast es nicht verstehen wollen. Sie haben dir gesagt, dass du wachsen, reifen und eines Tages so sein wirst wie sie. Und du hast ihnen nicht glauben wollen.
Dennoch weißt du jetzt, dass es so ist, und mit einem Mal hast du Angst, solche Angst, dass du am liebsten kehrtmachen und dich zurück in das Schloss flüchten möchtest, in dem du dich auskennst, obwohl das hieße, dich nicht im Labyrinth zu beweisen, niemals die Kammer im Zentrum zu erreichen, die den Besten vorbehalten ist, diese Kammer, die zugleich ein Garten ist, dessen Bäume Früchte aus Edelsteinen tragen.
Plötzlich schreckt dich der Gedanke, dass du, selbst wenn du die Kammer findest, danach noch den Ausgang auf der anderen Seite suchen musst, und dass jenseits davon das große Unbekannte liegt, das dir noch nie jemand in Begriffen geschildert hat, die du hättest verstehen können.
Du blickst zurück, und das Schloss mit seinen behaglichen Zimmern, die im Lauf der Jahre immer kleiner und vertrauter geworden waren, ist verschwunden, verschluckt von der Finsternis, und dir bleiben nur das Licht, das dir entgegenleuchtet, die geschlossenen Türen und der Weg nach vorn.
Irgendwann öffnest du eine der Türen, und sobald sie sich hinter dir schließt, weißt du, dass du zum letzten Mal hindurchgegangen bist, dass du eine Entscheidung getroffen hast, dass der Raum, den du vor dir siehst, jetzt die Realität ist, die du erobern, durchqueren musst, um zum nächsten Saal, zur nächsten Treppe, in den nächsten Garten zu gelangen, wo sich die Pfade gabeln und, sobald du dich für einen entschieden hast, die anderen im Dunst verschwinden werden.
Schon bist du im Labyrinth und weißt, dass du lebend nicht wieder herauskommst.
Candela stand schon sehr früh vor der Tür zum Labyrinth. Als Tochter einer Witwe hatte ihr gesamtes Umfeld dazu beigetragen, dass sie schnell erwachsen wurde, um einer Schar altmodischer Frauen – die der Ansicht waren, »ein Haus ohne Mann ist ein Haus ohne Schatten«, und die sich dies bei jeder Gelegenheit versicherten – gewissermaßen den Mann des Hauses zu ersetzen. Die Großmutter Juana, die Tanten Armonía und Paz, beide ledig, Ángela, die Mutter, und eine Kohorte von Freundinnen und Hausmädchen, die
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