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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: barcelo
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miteinander gelacht, sich geliebt, das alte Foto betrachtet, das im Schulhof des Gymnasiums entstanden war, und Candela hatte gesagt: »Jetzt ist Schluss, Marga, mit der Vergangenheit ist Schluss, das haben wir uns redlich verdient.« Und daraufhin hatte Rita das Foto umgekehrt auf den Tisch gelegt und gedacht, wenn sie Tante Doras Wohnung verkauft hatte und Elda wieder verließ, würde sie es mitnehmen, vergrößern, Matis Gesicht in der Ecke wegretouchieren, das Bild rahmen und in ihrem Arbeitszimmer aufhängen. Weil sie zu den Mädels zurückgefunden hatte, diesen Mädels, die jetzt Frauen waren und vor denen sie in der ersten Nacht in dieser Wohnung, als das Wiedersehen unmittelbar bevorstand, solche Angst gehabt hatte. Jetzt war die Angst der Trauer gewichen, einer ungeheuren Leere, die sich noch nicht vollständig in ihr ausgebreitet hatte, weil sie Candelas Tod noch nicht wahrhaben wollte.
    Dennoch war Candela nach medizinischen Kriterien und menschlichem Zeitmaß seit zweieinviertel Stunden tot. Eine Frau, die wie eine Quelle gewesen war, lebendiger als alle Menschen, die sie in einundfünfzig Jahren kennengelernt hatte, war tot, und was in jedem anderen Moment der letzten drei Jahrzehnte nur ein vages Mitleid mit einer fernen Jugendfreundin in ihr ausgelöst hätte, war jetzt wie ein Messerschnitt durch die Brust: heiß, trocken, pulsierend. Sie hatte sie in diesen wundervollen Tagen wiedergewonnen und noch einmal verloren, diesmal für immer.
    Sie goss sich ein Glas kalten Wein ein, steckte sich noch eine Zigarette an und betrachtete ihre Hand, an der der matte Glanz des Ringes sie an ihre Heirat mit Candela erinnerte, sie immer daran erinnern würde, an das endgültige Eingeständnis einer der Grundwahrheiten ihres Lebens. Es war ein schlichter Trauring, mattgolden, sehr klassisch, sehr streng, wie Candela gewesen war, aber mit einem warmen Kupferton, der das Herz tröstete, wie es Candela getan hatte.
    Sie fühlte, wie ihr ein Schluchzen in die Kehle stieg, und ergab sich einige Minuten der Verzweiflung, hemmungslosem Weinen, einem Schmerz, der größer war als der, den sie empfunden hatte, als zuerst ihr Vater und dann ihre Mutter gestorben waren. Eine unermessliche Einsamkeit brach über sie herein und presste sie mit physischem Gewicht in den Stuhl, einem Gewicht, das sie niemals aus eigener Kraft würde stemmen können.
    Sie überlegte, ob sie Ingrid anrufen sollte, fühlte sich jedoch nicht imstande, ihr das alles zu erzählen, sie über die Schönheit Kubas plaudern zu hören, über die Kinder und ihre Streiche und schon gar nicht davon, was sich der Trottel Guillermo alles einfallen ließ, um sie zum Bleiben zu bewegen.
    Nein. Ihr Kummer gehörte nur ihr, und sie würde seine Last allein tragen müssen, zumindest bis sie wieder in London war, wo Ingrid und die Kinder ihr vielleicht helfen würden, den Erinnerungen an die letzten zwei Monate mit der Zeit die Schärfe zu nehmen, bis diese zu einer Art sonnigem Intermezzo und Teil all ihrer anderen Erinnerungen geworden wären, in denen sich nicht nur eigene Erfahrungen, sondern auch geliebte Romane und Filme mischten.
    »Auch dieser Schmerz geht vorüber«, hatte ihre Großmutter gesagt, die schon zwanzig Jahre Witwe war, als sie anfing, der Enkelin von Frau zu Frau zu begegnen. »Täte der Tod eines geliebten Menschen immer so weh wie am ersten Tag, wären wir alle schon gestorben.«
    Nur konnte sie sich nicht vorstellen, ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen, jetzt ohne Candela, mit ihrer Filmcrew zu arbeiten, erfundene Geschichten zu erzählen, die ihr plötzlich falsch und dumm, verlogen und absurd vorkamen.
    Sie hatte seit Wochen nicht an ihr nächstes Drehbuch gedacht und weder die Anrufe der Produktionsfirma noch die ihrer Mitarbeiter beantwortet. Auch mit Ingrid hatte sie seit einer Ewigkeit nicht gesprochen. Keine von beiden hatte die andere angerufen, um sich länger als zwei Minuten gegenseitig zu versichern, dass alles in Ordnung war und in ihrem Leben bald wieder Normalität einkehren würde.
    Das hatte Teresa zu ihr gesagt: »Geh nach Hause und schlaf eine Weile, Rita. Es ist alles vorbei. Jetzt muss wieder Normalität einkehren.« Teresa. So pragmatisch, nüchtern, vernünftig. Normalität.
    Teresa hatte ihr versprochen, sich um die Beisetzung zu kümmern, alles so zu machen, wie Candela es sich gewünscht hatte, mit Todesanzeige in der Zeitung, Messe, Familiengruft; aber Rita zitterte beim bloßen Gedanken, das alles allein

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