Töchter des Schweigens
ausleuchten muss, damit es nirgends Schatten gibt, weil sich in den Schatten die Ungeheuer verstecken.«
»Möglicherweise hat sie recht«, sagt Rita angewidert, unendlich müde. »Also«, setzt sie hinzu und bemüht sich, heiter zu klingen, »wann ziehst du aus?«
»Gib mir ein paar Wochen, Rita. Ich muss etwas finden, das für uns vier groß genug ist, die Kinder umschulen, meine Sachen packen … du weißt schon.«
»Such etwas für drei. Guillermo wird sich nie wieder blicken lassen, wenn er erst einmal in Europa ist. Entschuldige. Das ist deine Angelegenheit.«
»Ich werde mir auch einen anderen Job suchen, Rita. Ich hoffe, du verstehst das.«
»Wie du willst.«
»Nachdem ich ja nun weiß, was ich weiß, kann ich mir nicht vorstellen, weiterhin mit dir zu arbeiten, als wäre nichts geschehen, jedenfalls im Moment nicht.«
»Was weißt du denn? Gar nichts weißt du, du dumme Kuh!«
» Adiós , Rita. Ich melde mich.«
Ingrid lässt ein paar Sekunden verstreichen, als warte sie darauf, dass Rita noch etwas sagt, aber sie ist wie betäubt und bringt die Worte nicht zusammen, um so viele Missverständnisse, so viel Grausamkeit aus der Welt zu schaffen. Nach einer Weile bemerkt sie, dass die Verbindung tot ist. Ingrid weint sich vermutlich an Guillermos sonnenbrauner, muskulöser Schulter aus, während er ihr versichert, das sei ganz richtig gewesen, es sei das Beste für sie, sich von einer erklärten Lesbe rigoros zu trennen, sie rette damit ihren Ruf und die Zukunft ihrer Kinder, und sie würden sehr glücklich miteinander in London ohne das alte Mannweib, das immer zwischen ihnen gestanden habe.
Rita löscht das Licht, geht in die Küche und hinaus auf den Balkon, um den neuen Tag zu begrüßen, der sich schon über das Gipfelplateau von El Cid erhebt.
So fühlt es sich also an, wenn man stirbt, geht es ihr durch den Kopf.
Nein, widerspricht eine andere Stimme in ihrem Inneren. So fühlt es sich an, alles zu verlieren, mit leeren Händen zurück auf Los zu gehen, das Spiel im Alter von einundfünfzig Jahren von Neuem zu beginnen. Weiter nichts. Sterben ist etwas anderes. Etwas, das nur Lena und Candela kennen.
Die Sonne steigt unaufhaltsam. Das Tal von Elda wird überflutet von flirrendem, gewaltigem, blutrotem Licht. Die Schatten, die vom Berg auf sie zukriechen, sind lang, unglaublich lang. Wie die Schatten alter Sünden.
1974
»Hilfe! Hilfe! Kommt! Kommt schnell! Reme wird vergewaltigt!«
Einen Augenblick lang sind die Mädchen wie zu Eis erstarrt, die Gesten bleiben in der Luft hängen, die Worte im Hals stecken. Was sagt Mati da? Hat sie gesagt, Reme würde vergewaltigt? Wo? Von wem?
Tere ist die Erste, die auf die Bungalows zuspurtet, die anderen folgen ihr in weniger als zwei Metern Abstand wie eine wütende Jagdmeute, die aufgeregt die nahe Beute wittert. Mati rennt vor ihnen her, treibt sie mit Handbewegungen zur Eile an und legt mahnend einen Finger auf die Lippen, damit sie sich nicht verraten.
Schon auf dem Weg, der zu den Eingängen der einzelnen Bungalows führt, hören die Mädchen erstickte Knurrlaute, durchsetzt von spitzen, nasalen Schreien aus dem Zimmer ihrer Klassenkameradin, und verziehen die Gesichter bei der Vorstellung dessen, was sich in dem dunklen Zimmer zutragen mag, doch das Bild, das sich ihnen beim Eintreten bietet, übertrifft alle ihre Erwartungen: Mehrere rote Kerzen leuchten von den Möbeln und erzeugen weiche, bewegliche Schatten, die ein Eigenleben zu führen scheinen; bäuchlings aufs Bett gefesselt der nackte Körper einer Frau, ihre bleichen, fast fluoreszierenden Pobacken im rötlichen Dämmerlicht, ihr von einem schwarzen Sack bedeckter Kopf. Eine andere nackte Gestalt, ein Mann in Motorradstiefeln und einer ledernen Maske vor dem Gesicht, holt mit einer Peitsche zum Schlag aus; und in diesem Augenblick, die Peitsche in der erhobenen Hand, scheint er zu spüren, dass er beobachtet wird, wendet sich zur Terrassentür um und sieht schemenhaft eine Gruppe sprungbereiter Gestalten.
Ehe er reagieren kann, fallen sie über ihn her.
Mit den Fäusten, mit den Fingernägeln, mit ihrer ganzen unbändigen Wut über die erlittene Demütigung, mit grimmiger Solidarität für Doña Loles, mit dem gerechten Zorn, den sie auf Mati haben und nicht entladen können, mit all der aufgestauten Ohnmacht ihrer Träume von Freiheit, von Unabhängigkeit, von Selbstbestimmung in einer Gesellschaft, die ihnen weder erlaubt zu denken noch zu fühlen, sondern systematisch
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