Töchter des Schweigens
durchstehen zu müssen, ohne Ingrid, die ihr immer die Leute vom Hals hielt, sie immer beschützte, wenn sie wusste, dass ihr bei einer Sache nicht wohl war; ohne Candelas Hand in der ihren wie bei Lenas Beerdigung, denn jetzt war es Candelas Leichnam, der im Sarg liegen würde.
»Wenn alles vorbei ist«, hatte Candela noch am Vortag zu ihr gesagt, »wird dich Antoni Canals anrufen, ein befreundeter Notar. Geh gleich zu ihm, weil ich ihn mit einigen Angelegenheiten beauftragt habe. Nichts Großartiges, aber interessant für dich, glaube ich. Nach meinem Tod wirst du drei Geschenke bekommen, Rita, wie im Märchen. Erst wollte ich dir eines vorenthalten, damit es nicht so kitschig wird, aber so ist es nun einmal. Es sind drei. Und eines sieht nicht danach aus. Es hängt davon ab, wie es ausgeht und wie du es interpretierst.«
Mit einem geheimnisvollen Lächeln hatte sie sich geweigert, ihr mehr dazu zu sagen, und vierundzwanzig Stunden später hatte sie Teresa gebeten, ihr Versprechen einzulösen. Rita hatte stundenlang bei ihr gesessen, ihre Hand gehalten, zugesehen, wie sie sich von Sekunde zu Sekunde, mit jedem Tropfen Serum, der in ihre Venen floss, weiter entfernte.
Als das letzte Abendlicht begann, das Krankenhauszimmer rosa zu färben, hatte Candela zum letzten Mal die Augen aufgeschlagen und ihr lächelnd zugeflüstert: »Sieh nur, Marga, das ist, als badete man in Silber.« Dann war ihre Hand erschlafft, und sie war nicht mehr aufgewacht.
Rita schaltete die Tischlampe an, obwohl sich bereits das Morgengrauen ankündigte, schenkte sich den Rest Wein ein und drehte das Foto um. Die Mädels. Carmen, Ana, Tere, Sole, Magda, Candela, Marga. Vor dreiunddreißig Jahren. Zwei von ihnen bereits tot.
Sie streichelt Candelas Gesicht mit der Spitze des Zeigefingers. Auf diesem Foto war sie noch keine Mörderin. Am 28. Mai 1974 war Candela eine blutjunge Frau mit blitzenden grauen Augen, unbeugsamen Prinzipien, entschlossen, die Welt zu erobern. Glory days . Sic transit gloria mundi . Que en gloria esté . Und dafür all das Gloria-Geschwätz, denkt Rita. Um am Ende nichts als ein Kadaver zu sein, dazu verdammt, vergessen zu werden.
Vor Müdigkeit sieht sie alles verschwommen. Sie nimmt die Brille ab, reibt sich die brennenden Augen, die sich anfühlen, als wären sie voll heißem Sand. Sie legt den Kopf auf die Arme und will gerade einnicken, als das Schrillen des Handys sie aufschreckt. Wer konnte das zu dieser frühen Morgenstunde sein?
Für einen Augenblick denkt sie an ein Wunder: Candela ist wieder aufgewacht, Teresa ruft sie an, um ihr zu sagen, dass sie sofort in die Klinik kommen soll, alles wäre ein Irrtum gewesen, ein tiefer Schlaf, ein Koma, das sie mit dem Tod verwechselt haben, doch Ingrids Stimme zerstört diese törichte Hoffnung.
»Rita? Können wir reden?«
»Jetzt?«, entfährt es ihr.
»Du bist doch wach, oder nicht?«
»Nicht ganz. Ich war gerade eingedöst.«
»Egal. Wir müssen sofort reden. Es geht mir schon den ganzen Tag im Kopf herum, und jetzt halte ich es nicht mehr aus.«
»Was ist denn los?« Mit einem Schlag ist Rita so wach wie noch nie. Alle ihre inneren Alarmlämpchen blinken. »Probleme, Probleme.« »Dringend.« »Notfall.« »Mobilmachen.«
»Ich muss dir eine sehr ernste Frage stellen. Und du musst versprechen, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Ich habe dir immer die Wahrheit gesagt, Ingrid.«
Zaudern am anderen Ende.
»Mehr oder weniger.«
»Gut, es gibt Dinge, die ich dir nie erzählt habe, das gebe ich zu, aber ich habe dich nie angelogen.«
»Ja, du hast recht.«
»Deine Frage.«
»Ist es wahr, dass du vor dreiunddreißig Jahren jemanden umgebracht hast? Ist es wahr, dass du und alle deine Freundinnen Mörderinnen seid?«
Rita hat das Gefühl, als hätte ihr jemand mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. Das Gefühl ist so echt, dass sie ihren Schädel betastet, um sich zu vergewissern, dass er bei dem Aufprall nicht gebrochen ist. Ihr Haar ist feucht, aber sie blutet natürlich nicht. Sie blutet nur innerlich.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Antworte, bitte.«
»Ingrid, um Himmels willen! Kannst du nicht warten, bis wir uns sehen und in Ruhe darüber sprechen?«
»Nein. Ich will nur eine Antwort von dir. Ist es wahr oder nicht?«
Rita steht auf und geht im Arbeitszimmer auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Ist es wahr oder nicht? Glaubt Ingrid wirklich, eine solche Frage ließe sich mit Ja oder Nein beantworten? Ist sie wirklich so naiv oder so
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