Töchter des Schweigens
Strömung ihn ins Meer hinauszieht, sind wir gerettet«, sagt Marga und spricht damit aus, was alle denken. »Wenn nicht …«
»Wenn nicht«, versetzt Candela, »sind wir weit weg, wenn sie ihn entdecken, alle brav zu Hause. Und uns hält kein Mensch für etwas anderes als ein paar Teenager auf Klassenfahrt. Er wollte heute abreisen. Im Moment wird ihn niemand vermissen. Hatte er Familie?«, fragt sie, an Reme gewandt.
»Er hat gesagt, dass er allein lebt, seine Eltern wohnen in einer anderen Stadt.«
»Hoffentlich stimmt das. Hat jemand eine Zigarette?«
Alle haben ihre Handtaschen in Remes Zimmer oder im Garten fallen lassen.
»Und jetzt?«, fragt Ana, die Arme fest um den Körper geschlungen.
»Jetzt gehen wir zurück. Und machen sauber. Seine Sachen teilen wir untereinander auf und verlieren sie nach und nach im Lauf des Tages oder noch besser morgen Nacht, wenn wir auf dem Schiff sind. Wenn jede etwas von dem Zeug über Bord wirft, kann es unmöglich gefunden werden. Wir packen unsere Koffer und erscheinen pünktlich zum Frühstück.« Marga schlägt einen möglichst sachlichen Ton an. Schon lange hat sie erkannt, dass sie Situationen, die ihr über den Kopf wachsen, am besten meistert, indem sie so tut, als spielte sie eine Rolle in einem Film; als ob nicht sie es wäre, die so spricht und denkt und fühlt, sondern die Heldin eines Drehbuchs, das sich jemand anderes ausgedacht hat.
Als sie kehrtmachen und den Rückweg zum Hotel antreten, treffen sie auf Mati, die eine schwarze Strickjacke um die Schultern gelegt hat und wie ein unheilverkündender Rabe ein paar Meter weiter unten auf der Brüstung hockt.
Stumm gehen sie an ihr vorüber und spüren, wie sie sie durch den Rauch der Zigarette in ihrer Hand aus schmalen Augen mustert. Mati schmunzelt.
Sie sind schon zehn Meter weiter, als sie ihre Stimme hören.
»Diesmal habt ihr euch ja was Schönes eingebrockt. Aber ihr könnt mir vertrauen. Wenn mir daran gelegen ist, kann ich schweigen wie ein Grab.«
Zähneknirschend setzen sie ihren Weg fort, ohne sich umzusehen.
In diesem Moment wissen sie noch nicht, dass sich das Rad ihrer Zukunft soeben gedreht hat und sie nie wieder sein werden, was sie waren. Und was sie sich erträumt haben, auch nicht.
August 2007
Wir alle sind aus Sternenstaub,
in unseren Augen warmer Glanz,
wir sind noch immer nicht zerbrochen,
wir sind ganz.
Ich & Ich, Vom Selben Stern
Trotz der offenen Fenster ist Lenas Wohnung ein Backofen. Alle Zimmer außer dem Bad und der Küche gehen nach Westen, was im Winter ein Genuss sein dürfte, im Sommer aber eine Qual ist.
Ana, Rita und Teresa helfen Jeremy und seiner Frau Cindy schon den ganzen Tag, auszuräumen und alles wegzuwerfen, was die beiden nicht behalten wollen, damit sie die Wohnung vermieten und so über zusätzliche Einkünfte verfügen können. Aber die Freundinnen machen praktisch alles allein, denn Cindy ist seit einigen Monaten schwanger und sofort ins Hotel gegangen, um sich bei voll aufgedrehter Klimaanlage hinzulegen, und Jeremy, ein junger Mann, der ständig eine angeekelte, gereizte Miene zur Schau stellt, als sei das alles eine unerträgliche Zumutung, tut nichts weiter, als zwischen der Wohnung und dem Hotel hin und her zu pendeln. Seine Gestik und seine knappen Worte vermitteln den drei Frauen den Eindruck, dass er zwar einerseits nett sein will, weil er auf ihre Hilfe angewiesen ist, sie aber andererseits nicht ausstehen kann und nicht wagt, sie allein in der Wohnung zu lassen, damit sie nichts mitnehmen, das eventuell von Wert sein könnte. »Als hätten wir nicht ausreichend Gelegenheit gehabt, alles mitzunehmen, was uns gefällt. Immerhin hat er sechs Wochen gebraucht, um herzukommen!«, bemerkt Ana belustigt. Die drei sind allein, denn nachdem Carmen sich telefonisch von Felipe getrennt und die Karibik-Kreuzfahrt abgesagt hatte, ist sie mit Sole nach Kuba gefahren. Sie wirkten wie zwei junge Mädchen, als sie sie am Flughafen verabschiedeten, wie neu geboren.
Auch Ana scheint in letzter Zeit von einer Last befreit, die sie ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt hat, als wäre sie durch Candelas Geständnis von ihrer Beteiligung an dem nächtlichen Vorfall auf Mallorca erlöst. Teresa und Rita haben sich kürzlich darüber unterhalten und waren einhellig der Meinung, sie lieber in dem Glauben zu lassen, die Vergangenheit damit endlich bewältigt zu haben. Jetzt ist sie in der Küche und mischt eine Limonade,
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