Töchter des Schweigens
versucht, ihnen die Flügel zu stutzen und sie zu hindern, sie selbst zu sein, stürzt sich die Clique vom 28sten auf den nackten Mann, der jetzt nichts weiter ist als ein Vergewaltiger, ein geiler Bock, der fleischgewordene Satan, den es zu vernichten gilt, um das hilflose angebundene Mädchen zu retten, das Opfer, das stellvertretend für sie alle steht.
Der Mann versucht, sich mit den Armen zu schützen, stammelt zusammenhanglose Worte in einem Englisch, das sie nicht verstehen und auch nicht verstehen wollen, er schreit vor Schmerz, als ihn ein Tritt in die Hoden trifft, und als er dann verängstigt am Boden liegt, wird er weiter geschlagen, getreten, gekratzt, spürt Absätze, die sich zwischen seine Rippen, in seinen Magen bohren, wie elektrisch geladener Hagel auf ihn niederregnen, während Reme auf dem Bett ein anhaltendes Heulen von sich gibt, das nur aus der Nase kommt, ein lang gezogenes an- und abschwellendes Jaulen wie aus einem Horrorfilm.
Carmen prügelt auf ihren Vater ein, Sole auf ihren Onkel Ismael, Magda auf César, Tere auf den Feigling, der sie geschwängert hat, Marga und Candela auf alle, die sie nicht sein lassen, wie sie sind, und vielleicht auch auf sich selbst, Ana auf den Liebhaber ihrer Mutter, auf ihren Vater, der seine Frau anzeigen will, damit man sie ins Gefängnis steckt, auf alle Männer, die ihre Frauen unterjochen, auf die Machos, die Priester, die Lehrer, die Politiker. Und alle auf Mati, die sich ihre schrecklichsten Geheimnisse zunutze macht, um sie zu unterwerfen und zu beschämen.
Die Mädchen haben jegliches Maß verloren. Sie sind jetzt Die Mänaden , Hohepriesterinnen bei einem Ritus, der so alt ist wie die Zeit. Es gibt kein Zurück. Ein atavistischer Impuls treibt sie, den gefallenen Mann weiter zu schlagen, den Feind, die Bestie, die sie bedroht, den Macho, der sie erniedrigt; ein Impuls, der erst nachlassen wird, wenn die Gefahr gebannt ist, wenn er sich endlich nicht mehr regt, wie jetzt, als ihm eine Hand einen schweren Kristallaschenbecher ins Gesicht schmettert, auf die Nase zuerst, sodass sie bricht und eine Blutfontäne herausschießt, dann auf den Schädel, der klingt wie eine zerplatzende Kokosnuss, und nach den letzten Fußtritten gegen die leblose Gestalt verebbt die Wut allmählich wie eine Rote Welle, die ein mit Strandgut übersätes Ufer hinterlässt.
Langsam beginnen sie zu begreifen, was geschehen ist. Ana steht auf und wischt sich die Hände am Oberteil ihres weißen Kleides ab. Marga und Tere gehen zum Bett, auf dem Reme noch immer ihr näselndes Geheul von sich gibt, suchen auf dem Nachttisch nach dem Schlüssel für die Handschellen und beginnen, Reme mühsam zu befreien, weil ihre Hände flattern wie Blätter im Wind. Sole und Candela starren sich an und erkennen im glasigen Blick der anderen den Wahnsinn, den sie in ihren eigenen Augen nicht wahrhaben wollen. Carmen beugt sich zu dem am Boden liegenden Mann hinunter und stupst ihn mit dem Finger an, nur um bestätigt zu finden, was sie bereits weiß: Der Mann rührt sich nicht.
Tere und Marga ist es gelungen, die Handschellen zu öffnen und Reme die Kapuze abzunehmen. Reme ist vor Entsetzen so entstellt, dass die anderen sie in dieser leichenhaft starren Maske mit den hervorquellenden Augen kaum wiedererkennen, sie reißen ihr den Knebel ab und schließen sie fest in die Arme, trösten sie und geben ihr zu verstehen, dass sie in Sicherheit ist, dass ihr niemand mehr wehtun wird, dass ihre Freundinnen bei ihr sind.
Reme macht sich aus der Umarmung los, kriecht auf allen vieren zum Fußende des Bettes und wirft sich zur Verblüffung der anderen auf den unbeweglichen Körper.
»Er ist tot«, sagt sie rau, in einem Ton zwischen Feststellung und Frage. »Ist er tot? Habt ihr ihn totgeschlagen?« Diesmal klingt die Frage hysterisch, und ohne zu überlegen, gibt Candela ihr eine Ohrfeige, damit sie endlich den Mund hält.
»Reme, mein Gott, bist du verrückt? Der hat dich vergewaltigt, du Rindvieh, der hat dir …« Tere verstummt schlagartig. Jemand hat die Nachttischlampe eingeschaltet, und das Erste, was sie sieht, sind der Beutel und der Rucksack neben Remes weißem Koffer, die Kleider des Mannes gefaltet über einer Stuhllehne. »Hat er dich etwa nicht vergewaltigt? Sag bloß, du wolltest, dass er …« – ihre Hand wedelt hektisch hinüber zum Bett, zu den Kerzen und den Handschellen, die von den Pfosten am Kopfende baumeln – »das mit dir macht?«
Remes Haar ist schweißverklebt,
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