Töchter des Schweigens
immer noch aus wie ein Teenager! Und du, Carmen, umwerfend wie eh und je.«
»Ein paar Pfunde mehr, aber das Fett sitzt an den richtigen Stellen«, lachte Carmen und umfasste mit beiden Händen ihre Brüste. Sie trug ein rotes Top über einem Wonderbra und eine weiße Hose.
Rita stellte ihnen Ingrid vor, und nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ließen sie sich am Tisch nieder und bestellten beim Kellner einen Krug Bier, worauf Carmen, ohne zu fragen, ein paar Tapas für alle orderte.
»Viele Erinnerungen?« Lena fasste Rita, die sich neben sie gesetzt hatte, mit einem liebevollen Lächeln bei der Hand. Ihr Haar war immer noch lang, jetzt auf dem Rücken lose zum Zopf geflochten, und sie trug einen afrikanisch gemusterten Rock mit einer Bluse in erdigen Tönen.
»Kann man wohl sagen. Ich erkenne fast nichts wieder, aber ihr seid noch genau wie früher.«
»Ach ja«, seufzte Teresa, »schön wär’s. Wir, die wir hier leben, sehen uns ja ab und zu, darum fällt es uns nicht so auf. Aber dir müssen wir doch steinalt vorkommen.«
Rita schüttelte den Kopf, denn in jeder Stimme und jedem Lächeln erkannte sie ihre Freundinnen wieder. Und sie log nicht, wenn sie sagte, sie hätten sich nicht verändert, weil das Bild, das sie sich von ihnen bewahrt hatte, im Nu verflogen war wie Alkohol aus einem Flakon und nur noch die Gegenwart zählte, die sie in diesem Augenblick umgab.
»Dich haben wir natürlich oft auf Fotos gesehen«, fuhr Teresa fort. »Vor zwei Jahren haben wir alle zusammen bei Lena die Oscar-Verleihung gesehen, falls dein Film gewinnt. Wir haben uns aufgeführt wie die Irren, als dein Name aufgerufen wurde, da war es mindestens drei Uhr morgens. Und als du nach vorn kamst, um den Preis in Empfang zu nehmen …«
»Warum hattest du Männersachen an?«, fiel ihr Carmen ins Wort, während sie das Bier einschenkte. »Das hat mich zehn Euro gekostet.«
»Wieso denn das?«, fragte Rita perplex.
»Ich hatte mit Candela gewettet, dass du zu einem solchen Anlass ein Abendkleid tragen würdest. Sie sagte, du würdest in Hosen gehen.«
»Das waren keine Männersachen«, sprang Ingrid für ihre Freundin in die Bresche. »Aber Rita hat in ihrem ganzen Leben noch kein Abendkleid getragen, und sie hatte Angst, sich mit hohen Hacken und einem langen Rock lächerlich zu machen, darum haben wir schließlich eine Art Frack gewählt und dazu ein sehr feminines halb transparentes Top mit Pailletten. Und ich habe sie überredet, die Brille wegzulassen und Kontaktlinsen zu tragen. Und Make-up. Sie sah traumhaft aus, nicht wahr?«
Alle nickten.
»Wir waren wahnsinnig stolz auf dich, Rita.« Lena sah sie wieder mit diesem Lächeln an, das Rita nie vergessen hatte, weil es wie ein inneres Leuchten war. »Du bist die Einzige von uns, die sich einen Namen gemacht hat.«
»Wir haben alle einen Namen, Lena«, gab Rita zurück, ebenfalls lächelnd, und ließ den Blick über die Frauengruppe gleiten, als wäre auch sie stolz auf die anderen.
»Du verstehst schon, was ich meine. Ich habe immer gewusst, dass du etwas Besonderes bist.«
»Was ist mit den anderen? Kommen die auch?«, wechselte Rita unvermittelt das Thema, das ihr allmählich unbehaglich wurde.
»Ana musste zu einer Entbindung, aber sie kommt, sobald sie fertig ist. Und Candela wird die Letzte sein, wie immer, denn große Auftritte sind nun einmal ihre Spezialität«, sagte Teresa. »Manche Dinge ändern sich eben nie.«
»Ja.« Carmen nickte. »In dieser Beziehung sind wir alle gleich geblieben. Teresa, die Vernünftige, Lena, die Verträumte, ich, die Ungehobelte. Erinnerst du dich noch, Tere, damals im Frühling?«
Teresa fing an zu lachen, ohne dass die anderen wussten, worum es ging.
»Erzähl, erzähl«, bat Ingrid, die sich unter diesen Unbekannten, die so ganz anders waren als ihre englischen Freundinnen, immer wohler fühlte.
Carmen nahm einen langen Schluck Bier, sah Teresa an und hätte beinahe losgeprustet, riss sich aber zusammen.
»Es war an einem Nachmittag im letzten Schuljahr, kurz nachdem der Frühling begonnen hatte, das weiß ich noch wie heute. Über Nacht waren die Bäume der Gran Avenida voller Knospen, die sich zu rosa Blüten öffneten, ähnlich wie Mandelblüten, aber dicker und protziger. Soweit ich mich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie blühten. Tere und ich gingen in die Schule zum Nachmittagsunterricht – wahrscheinlich hatten wir Turnen oder Handarbeit oder sonst was Ödes, wie immer von vier bis
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