Töchter des Schweigens
riesigen Bäume auf dem unbeschreiblich grünen Rasen der Parks, einem Rasen, den man betreten darf, auf dem man sich ausstrecken, den Wolken zusehen und das Gefühl genießen kann, dass es mit dem Schuljahr, den Zeugnissen und den obligatorischen Turnübungen ein Ende hat.
Es ist ein Julinachmittag in London, und sie hat gerade ihren neuen indischen Rock angezogen. Der Stoff streichelt ihre Knöchel oberhalb der Sandalenriemen, und die Glöckchen am Taillenbund begleiten jede ihrer Bewegungen. Sie betrachtet sich im Spiegel des Zimmers, das sie mit vier anderen Mädchen teilt, und während sie ihre lange glatte Mähne kämmt, gefällt sie sich, wie sie sich noch nie gefallen hat: der Glanz in ihren Augen, der schwarze Stern, den sie sich auf die Wange gemalt hat, das blaue, mit kleinen Spiegeln bestickte Band um die Stirn, das lila Hemdchen mit den Flatterärmeln, das sie heute zum ersten Mal ohne BH trägt, der Hippierock. Sie starrt in den Spiegel, als wolle sie sich ihr eigenes Bild für immer einprägen, ihr Bild im Abendlicht eines viktorianischen Hauses, das schon bessere Zeiten gesehen hat, im Goldrahmen des Spiegels, der es umschließt wie ein Porträt und wie ein Schutzwall ist, der sie vor Alter, Elend und Schmerz bewahren würde.
Das Licht, das durch das halb offene Fenster fällt, ist rötlich und verleiht dem Rahmen und ihrem von der Sommersonne gebleichten Haar einen matten Glanz. Sie beißt sich auf die Lippen und lächelt sich zu, kühn und verwegen. Es ist das erste Mal, dass sie mit einem Jungen, mit einem Mann, essen geht. Er ist sechsundzwanzig Jahre alt, heißt Mike und ist Busfahrer. Er ist groß. Blond. Ausländer.
Mikes verblasstes Bild wird überlagert von der gebieterischen Miene Candelas, die soeben das Lokal betreten hat.
Rita blickte ihr entgegen, wie sie energisch auf ihren Tisch zuschritt, und spürte, wie sich ihr unwillkürlich die Kehle zuschnürte. Candela war stark gealtert, doch mit den Falten und den weißen Strähnen sah sie erst recht aus wie eine russische Herzogin im Exil, aufrecht wie ein Pfosten, schlank und spitzzüngig.
»Na, Lena, starrst du mal wieder Löcher in die Luft? Mann, oh Mann, unser Promi ist da, Mädels, der Star höchstpersönlich!«
Rita hatte ihren Ton vergessen, ihre Bissigkeit, ihren Drang, überall im Mittelpunkt zu stehen. Rita sah zu Ingrid hinüber, sackte auf ihrem Holzstuhl ein wenig zusammen und wünschte sich erneut, weit weg zu sein.
»Also, Mädels, wer besorgt mir ein Glas Wein?« Ihr Blick traf Ingrid mit fast physischer Wucht. »Und wer ist das?«
Bevor Rita antworten konnte, war Teresa ihr zuvorgekommen.
»Das ist Ingrid, Ritas Freundin und auch ihre P.A. , stimmt doch, oder?«
»Sieh mal einer an, unsere liebe Marga mit Persönlicher Assistentin. Hast dich ja schwer gemacht, Kindchen! Ich bin Candela, bestimmt hast du schon Übles von mir gehört. Aber mal ehrlich, Mädels, wenn ich gewusst hätte, dass auch Außenstehende zugelassen sind, hätte ich Gonzalo mitgebracht und euch eifersüchtig gemacht. Er ist zum Anbeißen!«
»Unsere einzige Regel war immer: keine Männer!«, sagte Carmen, die in Candelas Gegenwart immer schnell ungehalten war, weil sie es nicht ertragen konnte, ihr Mundwerk auf den zweiten Platz verwiesen zu sehen.
»Was alten Jungfern und Geschiedenen ja nur recht sein kann.«
»Was du bis vor ein paar Tagen selbst noch warst.«
Teresa und Rita wechselten wieder einen Blick, um sich darüber zu verständigen, ob sie einschreiten sollten.
»Alte Jungfer oder geschieden?«
»Geschieden, du? Aber dich hat doch nie einer gewollt.«
»Als ich euch angerufen habe, um dieses Treffen zu vereinbaren, habe ich, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet, dass es schon gleich zu Anfang so ruppig würde.«
»Nimm’s locker, Mutter Teresa. Carmen und mir hat es doch schon immer Spaß gemacht, uns gegenseitig anzugiften, stimmt’s, Carmen? Ah, mein Wein. Auf euer Wohl, ihr Uhus!«
Lächelnd stießen sie an, und der Kellner stellte die Tapas auf den Tisch: scharfe Kartoffeln, sauer eingelegte Sardellen, Muscheln, Schnecken, Schinken- und Käseplatten, zwei Salate, frittierte Fischchen, Kartoffelomelett … genug für eine Schulspeisung.
Während sich das Gespräch allgemeineren Themen zuwandte, schaute Rita den anderen zu, als sähe sie einen Film, als gehörte sie nicht derselben Realität an. Unversehens waren aus den Mädchen, die sie in Erinnerung hatte, reife Frauen geworden, mit Ausnahme von Lena, die gänzlich
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