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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: barcelo
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sechs –, und mit einem Mal bleibt Tere stehen, betrachtet ganz entrückt die Bäume und sagt in diesem salbungsvollen Ton, der ihr so gut liegt: ›Ist dir eigentlich klar, Carmen, dass es nächstes Jahr um diese Zeit Frühling in Valencia sein wird?‹«
    Teresa unterbrach sie, als führten sie ein hundertmal geprobtes Theaterstück auf: »Und dir, die du noch nie einen Hauch von Phantasie besessen hast, fällt darauf nichts Besseres ein, als zu sagen: ›Na klar, in Valencia und hier. Nächstes Jahr um diese Zeit wird auf der gesamten nördlichen Hemisphäre Frühling sein.‹ Nicht schlecht, oder? Klar, dass ich lachen musste!«
    »Krummgelacht hast du dich! Bis zum Schultor hast du gewiehert, und ich hätte dir fast eine scheuern müssen, damit du dich wieder einkriegst.«
    »Was ich damit sagen wollte, war nämlich, dass wir im folgenden Jahr achtzehn sein würden, Studentinnen wären und seit fast einem Jahr weit weg von zu Hause unser eigenes Leben führen, unser Geld selbst verwalten würden …«
    »Ins Bett gehen könnten, mit wem wir wollten«, ergänzte Carmen.
    »Daran dachte ich damals nicht. Ich dachte an die Freiheit des Mündigseins.«
    »Ich weiß. Du warst immer sehr ernsthaft. Darüber haben wir uns dann auf dem ganzen Heimweg unterhalten.«
    »Ach ja? Daran erinnere ich mich gar nicht mehr.«
    »Ich schon. Ich weiß noch, dass die ganze Straße rosa war von diesen Blüten und ich mich gefragt habe, ob es in Valencia wohl Blumen gäbe, und ob ich mich nach einem Jahr dort noch so glücklich und voller Leben fühlen würde wie an diesem Nachmittag.«
    »Und wie hast du dich dort gefühlt?«, fragte Ingrid und neigte sich über den Tisch Carmen zu.
    Carmen zuckte mit den Schultern, nahm eine Serviette und begann, sie sorgfältig zusammenzudrehen.
    »Grauenhaft, natürlich! Ich habe nicht einmal bis zum Frühling durchgehalten, du weißt schon … Ich bin schwanger geworden und habe in aller Eile geheiratet, ehe man es mir allzu deutlich ansah. Im Mai darauf habe ich Vanessa bekommen. Die verflixten Bäume standen in voller Blüte, als ich aus der Klinik kam.«
    Ingrid sah Rita an, als wartete sie auf eine Bestätigung dessen, was Carmen gerade erzählt hatte, doch Rita schien ebenso überrascht wie sie selbst.
    »Weißt du das etwa auch nicht mehr, Rita? Ich habe Manolo geheiratet. Ich war achtzehn, er neunzehn.«
    »Manolo?«
    »Manolo Cortés, Menschenskind, bist du begriffsstutzig! Ihr wart das ganze Schuljahr über zusammen, bis wir aus Mallorca zurückkamen. Wir waren wohl eines der ersten Ehepaare, das die Scheidung einreichte, kaum dass das Gesetz in Kraft war. Tja, mit meinem goldenen Valencia-Traum war es jedenfalls aus.«
    »Und du, Teresa?«, fragte Ingrid, um die plötzlich entstandene Spannung zu lockern.
    »Gut. Nicht so toll, wie ich es mir ausgemalt hatte, aber gut. Ich schrieb gute Noten, war in fünf Jahren mit dem Medizinstudium fertig, mit Stipendium, klar, und lernte Jaime kennen, der auch Medizin studierte und gerade seinen Abschluss machte. 1982 haben wir geheiratet und sind immer noch zusammen. Er ist Zahnarzt, und ich bin Gynäkologin. Es war keine schlechte Zeit, aber, ehrlich gesagt, würde ich sie nicht noch einmal erleben wollen.«
    »Ich schon.« Lena sagte das so schwärmerisch, dass es nach tiefer Wehmut klang.
    »Aber du warst doch gar nicht auf der Uni«, sagte Teresa erstaunt.
    »Ich meine nicht die Uni, sondern diese Zeit im Allgemeinen, als wir siebzehn, achtzehn waren.«
    »Wozu?« In Carmens Ton lag eine unverhohlene Schärfe. Ohne zu merken, dass sie in die alten Rituale zurückfielen, tauschten Teresa und Rita einen besorgten Blick, wie früher. »Um dich wieder von diesem Pablo von der Fahrschule anmachen zu lassen? Du musst wissen, Ingrid, dass sich das goldene Zeitalter dieser Traumtüte auf die zwei Monate beschränkt, die sie mit dem Sohn des Fahrschulbesitzers liiert war, einem unausstehlichen Großmaul, der aus Jux und Tollerei auf die Bremse latschte, als sie mit achtzig über die Landstraße fuhr, sodass sie sich am Lenkrad den Unterkiefer brach.«
    Lena schließt für einen Moment die Augen, als könnte sie, indem sie Carmens Bild ausblendet, auch ihre Worte abschalten. Daran hatte sie seit Jahren nicht gedacht. Es war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, dass die Geschichte mit Pablo auch in diese Zeit fiel. Wenn sie an ihr Leben mit siebzehn denkt, hat sie einen englischen Sommer vor Augen, den letzten vor dem Abitur, den Schatten der

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