Töchter des Schweigens
alterslos wirkte, ein wenig verblichen vielleicht, mit ihrem langen Zopf und den Ethno-Ohrringen; eine Frau im Niemandsland, nicht mehr jung genug, um ein unbedarftes Mädchen zu sein, und noch nicht alt genug, um eine liebenswerte Oma zu sein. Hinter ihnen allen erahnte Rita schemenhaft ihre Männer, die aktuellen und die verflossenen, die erste Liebe, den Mann fürs Leben, den legitimen Gatten, den ersten Ex, den zweiten …
»Hat jemand etwas von Ana gehört?«, erkundigte sich Candela zwischen zwei Bissen.
»Sie ist im Krankenhaus«, erwiderte Teresa. »Ihr ist eine unerwartete Geburt dazwischengekommen. Wenn sie rechtzeitig fertig wird, kommt sie noch vorbei.«
»Ehrlich gesagt, habe ich immer gedacht, dass Ana sexuelle Probleme hat.«
Candela tat höchst erstaunt, als sie mit ihrer Bemerkung eine Lachsalve auslöste.
»Was denn für welche? Lass mal hören.«
»Was weiß ich? Ich bin eine der wenigen unserer Generation, die nicht Psychologie studiert haben. Frigidität, Lustlosigkeit … irgend so was.«
»Das sollte mich aber sehr wundern.« Teresa grinste spitzbübisch. »David ist nämlich echt süß.«
»Bis zum Jahresende sind die nicht mehr zusammen. Glaubt mir.«
Carmen richtete sich auf, und ihre Miene wurde hart, auch wenn das vorerst nur Ingrid auffiel.
»Sie sind seit zehn Jahren zusammen«, sagte sie, offensichtlich verärgert. »Hast du irgendwas gehört?«
»Weibliche Intuition, mein Schatz.«
»Du und deine Unkerei.« Auch Lena schien die Szene nicht zu gefallen. »Ana und David sind ein bezauberndes Paar, und wenn du neidisch auf sie bist, dann ist das dein Problem. Manche haben eben Glück gehabt und andere nicht, ganz einfach. Siehst du das nicht auch so, Carmen?«
Carmen starrte sie an, ihre Augen glänzten, und eine Sekunde lang sah sie aus, als wollte sie vom Tisch aufstehen, doch dann riss sie sich zusammen, lächelte wieder und ließ den Blick über die Reste auf den Platten schweifen, als überlegte sie, worauf sie noch Appetit hatte.
»Ich mag kein Glück in der Liebe haben, aber nächsten Monat mache ich mit Felipe eine Karibik-Kreuzfahrt«, sagte sie triumphierend.
»Mit Felipe?«, fragte Teresa schockiert.
»Eine Kreuzfahrt?« Ritas Tonfall war der gleiche wie Teresas, und alle mussten über die Punktgenauigkeit ihrer Fragen lachen.
»Ja, mit Felipe, der immer noch verheiratet ist, ich weiß, ich weiß, und der Mann meiner Träume ist er auch nicht, aber irgendeinen braucht man halt, und wenn sich etwas Besseres findet, werde ich ihn schon los. Und ja, eine Kreuzfahrt. Was ist daran so sonderbar? Das macht doch jeder.«
»Schiffe sind Rita nun mal ein Graus«, warf Ingrid ein. »Ich habe sie noch nie dazu bringen können, die Fähre von Frankreich nach England zu nehmen.«
»Keine von uns mag Schiffe.« Lena sprach sehr leise und blickte auf die rotweiß karierte, von Krümeln übersäte Wachstuchdecke.
»Immer noch wegen der Mallorca-Geschichte?« Carmen hatte sich den Mund mit der Serviette abgetupft und kramte in ihrer Handtasche nach dem Lippenstift. »Nicht zu fassen, Mädels, was ihr für Mimöschen seid. Das ist über dreißig Jahre her, und so schlimm war es nun auch wieder nicht.«
»Rita hat es mir nie so richtig erzählt.« Ingrids Ton klang beiläufig, sollte jedoch durchaus ihr Interesse an einem Ereignis bekunden, über das Rita nicht gern sprach.
»Wir hatten sehr schlechtes Wetter. Ein Gewitter«, sagte Candela nach einem kurzen, angespannten Schweigen. »Es gab einen Unfall. Wir fühlten uns alle ziemlich elend, und keine von uns hat mehr Lust, ein Schiff zu besteigen. Außer dieser dämlichen Kuh, die alles glaubt, was sie im Fernsehen sieht, und es fertigbringt, sich mit einem grässlichen Typen einzulassen, der obendrein verheiratet ist, damit sie sich einbilden kann, immer noch jung und begehrenswert zu sein.«
Wieder entstand ein Schweigen, und niemand schien sich zu wundern, dass Carmen nicht zum Gegenangriff überging. Ingrid starrte sie an, und Rita, wie zuvor Lena, schloss die Augen.
Wie hätte man Ingrid erklären sollen, wer sie damals waren, als die Zukunft noch vor ihnen lag wie die Allee zu einem verwunschenen Palast, wie die mit rotem Teppich belegte und von Wachen flankierte Treppe, die Aschenputtel hinaufgeht zum Ballsaal, wo der Prinz wartet?
Denn um den Prinzen drehte sich alles. Oder um den Abenteurer mit dem guten Herzen oder den Gauner in weißen Handschuhen oder den ehrbaren Polizisten oder den unverstandenen
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