Töchter des Schweigens
einer Kamera verfolgt zu werden. Die Türen auf der linken Seite standen alle offen: ein kleines Gästezimmer, Lenas Schlafzimmer mit einem großen weißen Bett und vielen Kissen, eine winzige Kammer voller Bücher mit einem Glastisch für den Computer, der mit der Rückseite zur Tür stand, das Wohnzimmer, größer, als sie es in Erinnerung hatte, denn jetzt standen dort wesentlich weniger Möbel als zur Zeit von Lenas Eltern: eine riesige Eckcouch, ebenfalls weiß, ein Tisch für vier Personen, eine Stereoanlage und ein alter Fernseher, Pflanzen, die fast bis zur Decke reichten, und eine getigerte Katze, die sich bei Ritas Eintreten faul räkelte und vom Sofa sprang.
Nichts an der Einrichtung erinnerte an Lenas Hippie-Vergangenheit, ihre häufigen Indientrips. Alles war sauber, hell, beinahe unpersönlich. Wie ihre eigene Wohnung.
Sie ließ die Flasche und die Blumen auf dem Tisch zurück und ging in die Küche, die ebenfalls verändert war. Die alten Resopalmöbel waren durch Schränke aus weißem Holz mit goldfarbenen Beschlägen und einer Arbeitsplatte aus hellem Stein ersetzt worden. Auf dem Tisch stand eine abgedeckte Schüssel mit etwas, das nach Gazpacho aussah, doch davon abgesehen deutete nichts darauf hin, dass Lena ein Abendessen für sie beide zubereitet hätte.
Jetzt blieb nur noch das Bad, aber aus irgendeinem Grund, den Rita nicht einmal sich selbst eingestehen mochte, wagte sie nicht, die Tür zu öffnen und nachzusehen, ob Lena darin war. Vielleicht war sie noch einmal einkaufen gegangen, weil sie etwas vergessen hatte, das sie für das Abendessen brauchte, und hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr eine Nachricht zu hinterlassen, weil sie davon ausgegangen war, dass Rita, wie bei den Mädels üblich, eine halbe Stunde später kommen würde. Aber hätte sie dann die Wohnungstür offen gelassen? Hätte sie sie nicht auf dem Handy angerufen und ihr Bescheid gesagt?
Sie klopfte mit den Fingerknöcheln an die Badezimmertür, fühlte sich dumm und fehl am Platz, wäre am liebsten aus der Wohnung gerannt und sehnte sich nach ihrem eigenen Zuhause, in ihre eigene Stadt, Tausende von Kilometern entfernt. Die Katze strich ihr um die Knöchel und begann, leise zu maunzen.
Das Licht des Sonnenuntergangs, immer glühender rot, malte Ritas Silhouette auf die weiße Tür, und immerzu fiel der Tropfen, unbeirrbar, auf der anderen Seite der Tür.
Vermutlich hat sie gebadet und ist in der Wanne eingeschlafen, dachte sie. Lena war seit jeher dafür bekannt, in den unmöglichsten Momenten einzuschlafen, mitten in einer Prüfung, kaum dass sie in einen Bus gestiegen war, wo sie ging und stand.
Rita drückte so vorsichtig die Klinke herunter, als fürchtete sie, Shane aufzuwecken, als wollte sie sich vergewissern, dass die Kinder schliefen, bevor sie sich mit Ingrid einen nicht jugendfreien Film ansah.
Das Bad, weiß und blau, hatte etwas von einem Boot, ein beunruhigend maritimes Flair.
Sie musste den Blick zweimal über den Körper ihrer Freundin gleiten lassen, um zu begreifen, dass sie beim ersten Mal richtig gesehen hatte. Der Wasserhahn ließ mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms Tropfen ins Wasser fallen, das schon tiefrot gefärbt war. Lenas langes Haar umschwebte ihr Gesicht wie eine Seeanemone. Ihre Augen waren offen, ihre Pulsadern ebenfalls.
Rita spürte, wie die Beine unter ihr nachgaben, und musste sich am Waschbecken festhalten. Ein Brechreiz krümmte sie zusammen, und als sie flüchtig ihrem Spiegelbild begegnete, glaubte sie ein Gespenst aus vergangenen Zeiten zu sehen, ein achtzehnjähriges Mädchen mit schweißverklebtem Haar und irrem Blick.
Mit zitternder Hand zog sie das Handy heraus und wählte Anas Nummer.
»Ana, bitte«, sagte sie, und ihre eigene Stimme klang ihr fremd, »ich bin in Lenas Wohnung. Ruf einen Krankenwagen, ich weiß die Notrufnummer nicht. Und sag deinem Mann, er soll sofort herkommen. Lena hat sich umgebracht.«
Als die Polizei eintraf – David mit zwei uniformierten Kollegen –, saß Rita noch immer neben der Badewanne, betrachtete Lena und passte auf sie auf wie seinerzeit im Krankenhaus während des Stadtfestes.
Ana und Rita saßen auf der Terrasse der Bar neben Lenas Haus, blickten sich in die Augen und hielten auf dem Tisch einander fest an den Händen. David hatte sie gebeten, eine Weile hinauszugehen, damit seine Leute in Ruhe arbeiten konnten, und sie hatten widerspruchslos gehorcht, dankbar, sich von diesem Ort entfernen zu dürfen, ohne das
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