Töchter des Schweigens
Drehbuch sie nicht verfasst hatte. Sie ging die Calle Padre Manjón hinauf, an der Gemeindebücherei vorbei und weiter bergan über die Gran Avenida, wo alle Bäume dem Bau einer Tiefgarage zum Opfer gefallen waren, und wie vor dreißig Jahren hielt sie unwillkürlich Ausschau nach Arturos Bar, die längst nicht mehr existierte, in der Hoffnung, jemanden aus ihrem damaligen Freundeskreis dort anzutreffen, einen Menschen, der der Welt und den Dingen ihre reale Dimension zurückgeben würde.
Sie hätte zehn Jahre ihres Lebens dafür gegeben, César zu begegnen und sich ihre Frustration und Beklommenheit von der Seele zu reden, bis er sie mit seinen kryptischen Bemerkungen und seiner aristokratischen Schönheit wieder zum Lachen bringen und ihr erklären würde, dass sie beide ganz besondere Wesen seien und somit über der kleinen alltäglichen Misere stünden. Doch die Bar war verschwunden, und César nichts als eine ferne Erinnerung, sodass sie allmählich zu glauben begann, sie hätte ihn nur erfunden, um zu überleben.
Sie betrat eine andere fast leere Bar, bestellte einen Kaffee mit Eiswürfeln und zündete sich mechanisch eine Zigarette an. Es hatte sie große Selbstbeherrschung gekostet, dem Polizisten nichts Näheres von dem Gespräch mit Manolo und dem Abend mit Candela zu erzählen. Sie hatte das Gefühl, nicht noch mehr verheimlichen zu können, als müsste jede zusätzliche Kleinigkeit, so banal sie auch sein mochte, den Rahmen sprengen und alles hervorbrechen, das Gute und das Böse.
Ich hätte niemals zurückkommen sollen, sagte sie sich zum x-ten Mal. Ich hätte mich nicht von Ingrid dazu überreden lassen dürfen.
Sie erinnert sich an Montagabend, an Manolo, der vor Tante Doras Haustür regelrecht Wache steht, nachdem er mehrmals versucht hat, sie auf dem Handy zu erreichen, und sie die Anrufe ignoriert hat, wenn auf dem Display sein Name erschien, seine schlecht gespielte Überraschung, als er sie aus dem Haus kommen sieht. »Komm, Marga, ich lade dich zum Abendessen ein.« Ihre Ablehnung, ihre Einwände, »ich stecke mitten in der Arbeit an einem Drehbuch, ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen und ein Sandwich essen, aber ich muss mich ranhalten und habe noch viel zu tun.« »Dann morgen.« »Tut mir leid, Manolo, da bin ich mit Candela verabredet.« »Übermorgen.« »Esse ich bei Lena.« »Wenn du schon keine Lust zum Essen hast, leiste ich dir wenigstens ein Weilchen Gesellschaft. Nein, nein, keine Widerrede, ein Bier wirst du mir ja wohl nicht abschlagen.«
Er trägt ein sehr teures Leinensakko, das an einer anderen Figur, an einem anderen Mann, elegant gewirkt hätte, und redet wie ein Wasserfall, zählt seine Erfolge auf, berichtet von seinen nächsten Bauvorhaben, von der Wohnsiedlung bei Altea, erstklassige Lage, das Beste vom Besten für Leute, die es sich leisten können. »Na komm, du willst ja wohl nicht behaupten, dass du nicht auch gern ein Häuschen direkt am Meer hättest, und sag bloß nicht, du könntest dir das jetzt nicht erlauben.« Jeder hält sie für reich, und niemand bedenkt, dass alles, was sie verdient, in neue Projekte, in ihre Produktionsfirma, in den nächsten Film fließt. Aus unerfindlichen Gründen sagt sie ihm, sie wäre froh gewesen, wenn sie sich El Campo damals hätte kaufen können, doch er schwärmt bereits von der Sache in Altea und scheint es überhört zu haben. Gemächlich spazieren sie durchs Dorf zur Calle Nueva, weil er ihr den Club zeigen will, der wie neu ist, schöner als neu, erst kürzlich umgestaltet und renoviert, und sie lässt sich von ihm hinführen, doch dann geht er einfach daran vorbei, zwinkert ihr zu und bittet sie um Geduld.
Sie lassen die Santa-Ana-Kirche hinter sich, und Manolo biegt in eine Gasse ein, die vage Erinnerungen in ihr weckt. Er zieht einen Schlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür zu einer Erdgeschosswohnung, in der es stark nach Schimmel riecht. »Warte«, sagt er, »irgendwo muss es Licht geben.« Im hinteren Raum geht eine Zwanzig-Watt-Birne an, und Manolo steht voller Besitzerstolz, die Hände in den Taschen, mitten im größten Zimmer. »Weißt du nicht mehr?«, fragt er. »Na hör mal, unser cuartelillo ! Ich habe es vor Jahren gekauft, mich aber noch nicht durchringen können, das Haus abzureißen. Diese Gegend war lange wie tot, alle Welt wollte ein Reihenhaus außerhalb der Stadt, aber jetzt kommen sie langsam zurück, und bald stelle ich hier einen Wohnblock hin. Man wird mir die Wohnungen
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