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Töchter des Windes: Roman (German Edition)

Töchter des Windes: Roman (German Edition)

Titel: Töchter des Windes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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selbst. Er redete sich ein, daß er diese Dinge wissen müßte, weil er sie wissen wollte. Er hatte noch nie Skrupel gehabt, wenn es um das Ausspionieren der geheimsten Gedanken und
Erfahrungen eines anderen Menschen ging. Und ebensowenig hatte er jemals Schuldgefühle verspürt, weil er seine eigenen Gedanken und Erfahrungen sorgsam vor anderen verbarg.
    Er blieb stehen und drehte sich langsam um die eigene Achse, um sich die Umgebung anzusehen. Das hier war ein Ort, an dem sich ein Mensch verlieren konnte, dachte er. So weit das Auge reichte, waren wogende, grüne, durch graue Steinmauern geteilte und mit wohlgenährten Kühen gesprenkelte Felder zu sehen. Der Morgen war so hell und klar, daß in der Ferne das Blitzen der Fensterscheiben einiger Cottages und das Flattern der Kleidungsstücke auf den Wäscheleinen zu erkennen war.
    Über ihm wölbte sich der Himmel in einem strahlenden Postkartenblau, doch ganz im Westen zogen schon wieder die ersten Wolken auf, deren purpurne Färbung ein erneutes Unwetter verhieß.
    Hier, in dieser Welt aus reinem Zuckerguß, roch er Gras und Kühe, das Salz des Meeres und den schwachen Duft des Rauchs, der aus dem Kamin eines Cottages stieg. Der Wind sang in den Gräsern, die Schwänze der Kühe schwangen leise zischend hin und her, und ein Vogel feierte mit seinem fröhlichen Gesang den Tag.
    Er hatte beinahe Schuldgefühle, weil er, wenn auch nur in seiner Phantasie, an einem solchen Ort Mord und Totschlag geschehen ließ. Beinahe.
    Er hatte sechs Monate Zeit. Sechs Monate, ehe sein nächstes Buch fällig war und er so gut gelaunt wie möglich die nächste Runde von Lesungen und Pressegesprächen begann. Sechs Monate, um die Story zu entwickeln, die in seinem Kopf bereits Gestalt annahm. Sechs Monate, um diesen kleinen Flecken Erde zu genießen, und die Menschen, von denen er bevölkert war.
    Dann würde er weiterziehen, wie er bereits von Dutzenden anderer Orte und von Hunderten anderer Menschen weitergezogen
war. Das ständige Weiterziehen beherrschte er bis zur Perfektion.
    Gray schwang sich über eine Mauer und überquerte das nächste Feld.
    Der Steinkreis, dem er sich plötzlich gegenübersah, beflügelte seine Phantasie. Er hatte schon größere Monumente gesehen, hatte im Schatten von Stonehenge gestanden und seine Kraft gespürt. Dieser Kreis hatte einen Durchmesser von vielleicht drei Metern, und der höchste Stein, der Königsstein, war kaum größer als ein Mann. Aber daß er den Kreis gerade hier, inmitten grasender, desinteressierter Kühe entdeckte, erschien ihm wunderbar.
    Wer hatte ihn errichtet und weshalb? Fasziniert umrundete Gray zunächst den äußeren Kreis. Nur zwei der Querblöcke waren noch an ihren Plätzen, die anderen waren in irgendeiner lang vergangenen Nacht herabgestürzt. Zumindest hoffte er, daß es Nacht und daß die Luft von einem Krachen erfüllt gewesen war, das an das Brüllen eines Gottes erinnerte.
    Er legte eine Hand auf den Königsstein. Unter der von der Sonne gewärmten Oberfläche spürte er eine erregende Eisigkeit. Ob er diesen Steinkreis verwenden könnte, überlegte er? Gäbe es in seinem Buch wohl Platz für diesen von uralter, doch unvergänglicher Magie erfüllten Ort?
    Geschähe hier vielleicht ein Mord? Er trat in den Kreis und dachte, irgendein Opfer wäre angebracht. Ein unergründliches Ritual, bei dem sich literweise Blut über das frische grüne Gras ergoß und schwarze Flecken auf den Steinen hinterließ.
    Oder vielleicht käme es hier zu einer Liebesnacht. Zu einem verzweifelten und gierigen Ineinander-Verschlingen von Gliedern – auf dem kühlen, feuchten Gras und unter einem vollen, weißen Mond. Die Steine stünden Wache, während sich das Paar in seinem Verlangen nacheinander verlor.
    Obgleich er beide Szenen mit der gleichen Klarheit vor sich
sah, war letztere mehr nach seinem Geschmack, vor allem, da er niemand anderen als Brianna mit aufgefächertem Haar und ausgestreckten Armen im Gras liegen sah. Ihre Haut wäre weich wie Wasser und weiß wie Milch.
    Ihre schmalen Hüften würden sich ihrem Geliebten entgegenrecken, während sie den schlanken Rücken bog. Und wenn er in sie eindrang, würde sie schreien und ihre kurzen, sauber gefeilten Nägel in seinem Fleisch vergraben. Ihr Körper würde sich aufbäumen wie ein wilder Hengst, immer schneller, immer heißer, immer leidenschaftlicher, bis ...
    »Guten Morgen.«
    »Großer Gott.« Gray machte einen Satz. Sein Atem ging stoßweise, und sein Mund kam ihm

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