Tödlich ist die Nacht
Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß? Was glauben Sie , was hier passiert ist?«
Abby Lowell betrachtete das Durcheinander, als sähe sie es zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte: die Akten und Papiere, die überall herumlagen, der Stuhl, der umgefallen war, vielleicht weil es einen Kampf gegeben hatte, vielleicht weil nach dem Mord alles durchwühlt worden war.
Parker beobachtete sie aufmerksam und dachte, dass unter der zur Schau gestellten ruhigen Miene ein ziemlicher Aufruhr herrschen musste. Er konnte es an ihren Augen erkennen, an dem leichten Zucken ihrer Mundwinkel. Angst, Entsetzen, der Versuch, die Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie hatte die Arme fest verschränkt, um sich selbst zu halten und um zu verhindern, dass ihre Hände zitterten. Sie vermied es noch immer, nach unten auf den Boden zu sehen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Vielleicht ein unzufriedener Mandant, vielleicht der Angehörige eines Opfers in einem Fall, den Lenny gewonnen hat. Vielleicht wollte jemand etwas haben, das Lenny nicht hergeben wollte.«
Ihr Blick wanderte zu einem Schrank, der hinter dem Schreibtisch ihres Vaters stand. In dem Schrank befand sich ein würfelförmiger schwarzer Safe, etwa einen halben Meter im Quadrat, dessen Tür offen stand. »In diesem Safe bewahrte er sein Bargeld auf.«
»Haben Sie den Safe durchsucht, Parker?«, frage Kyle, ganz leitender Ermittler.
Parker drehte sich zu Jimmy Chew um. »Jimmy, haben Sie in den Safe gesehen, als Sie gekommen sind?«
»Ja, Sir, das habe ich getan«, sagte Chew übertrieben förmlich. Er würdigte Kyle keines Blickes. »Als mein Partner und ich hier um neunzehn Uhr vierzehn eingetroffen sind, haben wir zuerst den Tatort gesichert und anschließend das Morddezernat verständigt. Dann sahen wir uns im Büro um, und mein Partner stellte fest, dass der Safe offen war und dass er nur Dokumente zu enthalten schien, die wir nicht untersucht haben.«
»Kein Bargeld?«, fragte Parker.
»Nein, Detective Parker. Kein Geld. Jedenfalls war auf den ersten Blick nichts davon zu sehen.«
»Ich weiß, dass Geld in dem Safe war«, sagte Abby mit gereiztem Unterton. »Viele von Lennys Mandanten zogen es vor, ihn in bar zu bezahlen.«
»Wer hätte das gedacht«, murmelte Jimmy Chew und wandte sich wieder ab.
»Er hatte nie weniger als fünftausend Dollar in diesem Safe – für gewöhnlich war es noch mehr. Er bewahrte das Geld in einem Geldsack von der Bank auf.«
»Hatte Ihr Vater Probleme mit einem seiner Mandanten?«, fragte Kyle.
»Er hat mit mir nicht über seine Mandanten gesprochen, Detective Kyle. Selbst skrupellose Anwälte, die sich mit Gesindel abgeben, haben so etwas wie Berufsehre.«
»Ich wollte damit nichts Gegenteiliges andeuten, Ms. Lowell. Ich bitte im Namen des Dezernats um Entschuldigung, falls irgendjemand hier Ihnen diesen Eindruck vermittelt haben sollte. Ich bin sicher, dass Ihr Vater Berufsehre hatte.«
Und die hatte er vermutlich in einem Einmachglas ganz hinten im Schrank aufbewahrt, neben den eingelegten Zwiebeln und einer zehn Jahre alten Dose Lachs, und fest verschlossen gehalten, dachte Parker. Er hatte Lenny Lowell im Gerichtssaal erlebt. Lowell hatte so wenig Skrupel und Berufsehre, dass er die Zeugenaussage seiner eigenen Mutter in Zweifel gezogen hätte, wenn damit ein Freispruch zu erreichen gewesen wäre.
»Wir werden uns die Akten seiner Mandanten ansehen müssen«, sagte Kyle.
»Sicher. Sobald die Verfassung geändert ist«, erwiderte Abby Lowell. »Diese Informationen sind vertraulich.«
»Dann eben eine Liste seiner Mandanten.«
»Ich bin an der Uni, nicht in der Sonderschule. Bevor nicht ein Richter eine gegenteilige Anordnung trifft, werden Sie keine vertraulichen Unterlagen aus diesem Büro mitnehmen.«
Kyles Gesicht über dem gestärkten weißen Kragen rötete sich. »Wollen Sie, dass wir den Mord an Ihrem Vater aufklären, Ms. Lowell? Oder gibt es einen Grund, dass Sie das nicht wollen?«
»Natürlich will ich, dass er aufgeklärt wird«, fuhr sie ihn an. »Aber ich weiß auch, dass ich mich jetzt um die Mandanten und um die Kanzlei meines Vaters kümmern muss, damit niemand geschädigt wird. Wenn ich einfach irgendwelche vertraulichen Informationen herausgebe, könnte das alle möglichen Klagen nach sich ziehen, noch laufende Verfahren beeinträchtigen und letztlich dazu führen, dass ich nicht den Beruf ausüben kann, den ich ausüben will. Ich will nicht von der Anwaltskammer ausgeschlossen
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