Toedliche Blumen
begannen zu blitzen.
»Sowohl meine Schwester als auch ich wussten, seitdem wir klein waren, dass es keinen Sinn machte, sie zur Rede zu stellen. Mit ihm kann man jetzt allerdings auch nicht mehr vernünftig reden. Doris verdrehte die Wahrheit immer so, dass die anderen die Fehler gemacht hatten. Niemals war es ihre eigene Schuld. Nicht ein einziges Mal. Nicht dass wir jemandem etwas davon erzählt hätten, meine Schwester und ich, aber wenn wir irgendwem gesagt hätten, dass sie uns terrorisierte, uns anlog und ständig die Wahrheit verdrehte, hätte uns sowieso niemand geglaubt. Nicht einmal unser Vater. Wenn er nicht zu Hause war, brüllte sie los, bekam Wutausbrüche, schlug um sich und schrie und konnte munter damit weitermachen, weil sie wusste, dass unsere Worte nichts nutzen würden. Keiner hätte uns geglaubt, wenn wir gesagt hätten, wie es sich tatsächlich verhielt. Wir waren ja noch Kinder. Und Erwachsene glauben sowieso nur das, was andere Erwachsene sagen, und nicht den Äußerungen von Kindern.«
Louise öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen.
»Sie brauchen gar nicht zu widersprechen«, kam ihr Clary Roos zuvor und wandte Louise ihr inzwischen hochrotes Gesicht zu. »Ich weiß nämlich, dass es so ist. Hundertprozentig. Denn einmal habe ich meiner Klassenlehrerin gesagt, dass Doris mich die Treppe hinuntergestoßen hat. ›Dann bist du wohl ungehorsam gewesen‹, hat die Lehrerin geantwortet. So war es immer, und so wird es jetzt auch wieder sein.«
Der Pflichtverteidiger sah inzwischen ziemlich gelangweilt aus, seine Augenlider hingen herab, und er unterdrückte ein Gähnen, was Louise ärgerte. Das Interesse für die psychische Verfassung seiner Klientin schien für den Moment erloschen, dachte sie zynisch und versuchte daraufhin, ihn zu ignorieren.
»Es war einfach schrecklich«, setzte Clary Roos hinzu und machte dann eine Pause.
Sie schaute aus dem Fenster und blinzelte im Gegenlicht. Louise musste zwangsläufig über die Ironie nachdenken, die darin lag, dass gerade diese Frau dazu fähig war, ein Kind zu kidnappen. Noch dazu ein vollkommen unschuldiges Mädchen großen Qualen auszusetzen und ihr damit möglicherweise sogar bleibende Schäden zuzufügen.
»Und was ist später geschehen?«, fragte Louise, um sie in die Gegenwart zu versetzen, auch wenn sie wusste, dass es nicht viel Zutun brauchte, um Menschen dazu zu bewegen, ihre Geschichte vor andächtigen Zuhörern auszubreiten.
»Nichts ist geschehen. Doch, wir ärgerten uns darüber, dass unser Vater begann, ihr Geld zuzustecken, und uns leer ausgehen ließ. Jedenfalls mich. Meine Schwester ist allein klargekommen. Sie besitzt ja die Glaserei.«
»Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Vater ihr Geld gegeben hat?«
»Das war nicht besonders schwer.«
Irritiert schaute sie Louise an.
»Er war schon immer ein netter Mensch. Eigentlich viel zu nett. Als ich meinen Job verlor, hat er mich unterstützt, was ja auch das Natürlichste von der Welt ist. Ich habe wirklich versucht, alleine zurechtzukommen, aber verdammt! Es war eine ziemlich harte Zeit ohne Job, hab mal hier und mal dort ausgeholfen, zuletzt in einer Schulkantine. Doch dann geriet ich mit der Miete in Verzug, und er sagte plötzlich einfach Nein, woraufhin ich versucht habe, meine Schwester anzupumpen, die allerdings behauptete, nichts damit zu tun zu haben. Sie müsse ja immerhin ihre eigenen Kinder versorgen. Und mein Charles ist eben nicht so wie alle anderen, und dennoch möchte ich ihn an den Wochenenden zu mir nehmen. Jedenfalls manchmal. Er soll wenigstens ein Zuhause haben. Und obwohl wir uns die Miete teilten, war es schwer genug. Per ist ja auch arbeitslos. Plötzlich schien sich das ganze Leben nur noch um Geld zu drehen. Man besitzt kein einziges Öre und ist bettelarm, obwohl man einen reichen Vater hat, von dem alle denken, dass er einen unterstützt. Dass man es doch gut haben müsste. Wahrscheinlich hat Doris veranlasst, dass er mir nicht helfen wollte. Meine Schwester glaubt das auch. Sie gibt es nur nicht offen zu, aber wir haben schon darüber gesprochen. Doris hat uns nie gemocht. Sie war von Beginn an eifersüchtig.«
»Charles ist Ihr Sohn, oder?«, wollte Louise wissen, woraufhin Clary Roos nickte und sich eine seltsame Mischung aus Stolz und Ohnmacht in ihrem Blick widerspiegelte. »Wie geht es ihm?«
»Gut«, erwiderte sie, und ihr Mund zog sich wie eine Rosine zusammen. »Er hat nichts mit dem Ganzen zu tun. Er wohnt bei Pflegeeltern und hat
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