Toedliche Blumen
Sicherheit schon viel dergleichen erlebt.
»Kaffee oder Tee?«, fragte er unvermutet.
Was?, dachte sie. Sie wollte weder das eine noch das andere.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie kraftlos.
Die Decke wärmte ihre Schultern. Der Polizist war eigentlich sowohl farblos als auch mager, nahezu schlaksig. Mehr der Bürotyp als der patrouillierende Ordnungswächter. So weit konnte sie ihn einschätzen, obwohl sie sich bereits entschlossen hatte, ihn zu mögen. Er hatte das Deckenlicht gelöscht. Nur die Schreibtischlampe brannte. Eine erholsame Dämmerung umgab sie beide. Es war das erste Mal, dass sie mit einem anderen Anliegen als dem Beantragen eines Passes auf der Polizeiwache war. Anliegen? Sie hatte es sich wahrhaftig nicht ausgesucht.
Sie blickte auf ihre Schuhe hinunter, musterte sie angeekelt und gleichzeitig neugierig, um nach Blutspuren zu suchen, was jedoch in diesem Licht fast unmöglich war. Bei dem Gedanken, dass die schwarzen Gummisohlen höchstwahrscheinlich blutverschmiert waren, breitete sich ein Metallgeschmack in ihrem Mund aus. Sie fühlte sich schmutzig und wollte die Schuhe abstreifen. Andere anziehen. Diese in die Mülltonne werfen.
»Es ist gut, etwas Warmes zu trinken, wenn man unter Schock steht«, sagte der Polizist ruhig.
Sie nickte. Er verschwand und kam mit einem Becher dampfend heißem Tee zurück, den er auf den Schreibtisch vor sie hinstellte.
»Zucker?« Dabei beugte er sich über sie, während er eine Hand auf die gelbe Decke irgendwo zwischen ihren Schulterblättern legte.
Sie schüttelte den Kopf und schaute hastig hinauf in das farblose Gesicht. Er richtete sich auf und zog gleichzeitig seine Hand zurück. Die Handfläche hatte leicht ihren Rücken berührt – eine beruhigende Geste, weder zu intim noch zu lang. Sie hatte Angst vor zu viel Nähe, fühlte sich befangen. Doch es schien, dass dieser Polizist das nötige Feingefühl besaß und begriff, wie unterschiedlich Menschen in solchen Situationen reagieren. Manche brauchen liebevolle Umsorgung, andere hingegen wollen allein gelassen werden oder wagen nicht, ihre Bedürfnisse zu zeigen, haben aber dennoch ein wenig Zuspruch nötig.
Sie blieb ruhig auf ihrem Stuhl sitzen und ließ sich von seinem konzentrierten Schweigen leiten, hinein in die erholsame Geborgenheit des Raumes.
Die Zeit stand auf wunderliche Weise still. Ein Büro mit Schreibtisch, PC und einem schwarzen Brett. Sie kam sich vor wie in Trance.
Von weit her vernahm sie das Klingeln eines Telefons. Draußen auf dem Korridor waren Stimmen zu hören. Jemand lachte völlig unpassend laut auf. Vor dem Gebäude startete ein Auto mit quietschenden Reifen. Aber nichts davon nahm sie bewusst wahr. Sie begann schläfrig zu werden. Ihre Augenlider wurden schwer.
»Astrid Hård. Heißen Sie so?«
Sie zuckte zusammen. Er hatte sich an den Schreibtisch gesetzt. Seine Hände ruhten schwer auf der Tischplatte, und er schaute sie prüfend an, wartete auf eine Reaktion. Sie nickte. Dieser Name. Kompakt und hart. Als hätte er gerade jetzt auf ihre Verfassung abgefärbt. Hart.
»Und Sie?«
»Peter«, sagte er. »Kriminalinspektor Peter Berg.«
ERSTES KAPITEL
Freitag, 5. April
D ie Mädchen waren zehn Jahre alt, fast elf, und hießen Viktoria und Lina. Sie waren die besten Freundinnen und standen im schneidenden Wind vor den automatischen Glastüren des Eingangsbereiches von Kvantum und fröstelten. Sie hatten nach der Schule schon fast zwei Stunden mit kleinen Kartons aus hellblauer Pappe, die an einer Schnur um ihren Hals hingen, vor dem Supermarkt gestanden. Ängstlich pressten sie die Pappschachteln an ihre Körper, um den Inhalt vor dem Wind zu schützen. Sie verkauften Maiblumen. Jene künstlichen, bunten Blumen, die jedes Jahr vor dem ersten Mai zu Wohltätigkeitszwecken verkauft werden. In diesem Jahr waren sie violett. Die oberen Kronblätter in einer dunkleren, nahezu weinroten Nuance, während die darunter liegenden einen helleren Rosaton besaßen. In der Mitte befand sich ein weißer Punkt. Dort saß die Nadel, mit der man die Blume befestigen konnte. Bei den größeren Blumen fürs Auto war der Punkt in der Mitte gelb. Am schönsten waren die Kränze, darin waren sich Viktoria und Lina einig, aber die waren schwer verkäuflich, denn sie kosteten am meisten. Lina hatte vier verkauft, an jede Tante einen. Viktoria, die nahezu keine Verwandten besaß, war noch gar keinen Kranz losgeworden.
Viktoria trug ihre neue Sommerjacke. Sie war aus hellbraunem
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